Gewalt im deutschen Frauenhandball: „Das Problem ist das Wegsehen“
Der Skandal um den Trainer André Fuhr hat den Frauenhandball aufgewühlt. Beim SV Buxtehude gibt es nun Vertrauenspersonen für die Spielerinnen.
Im Oktober hatten mehrere aktive und ehemalige Profi-Handballerinnen öffentlich gemacht, dass der Trainer André Fuhr über Jahre Demütigungen und enormen psychischen Druck auf Spielerinnen ausgeübt hatte. Fuhr war bis kurze Zeit vorher Trainer beim Bundesligisten Borussia Dortmund (BVB) und der U20-Nationalmannschaft gewesen.
Durch seine Trainingsmethoden seien viele Spielerinnen psychisch gebrochen worden, berichtet unter anderem Ex-Handballprofi Anja Ernsberger im Magazin Der Spiegel. Eine andere Spielerin spricht im selben Artikel von sexualisierten Textnachrichten und Übergriffen und dem Kontrollwahn ihres ehemaligen Trainers André Fuhr. Der BVB hat sich als Reaktion auf die Vorwürfe von Fuhr getrennt. Auch seine Tätigkeit als Bundestrainer hat Fuhr abgegeben. Der Deutsche Handballbund hat eine Aufarbeitungskommission gestartet.
Dass André Fuhr Spielerinnen unter Druck gesetzt hat und Demütigung Teil seines Trainingsprogramms war, muss in der Liga schon länger bekannt gewesen sein. Der Spiegel berichtet von Spielerinnen, die sich in Verträgen zusichern ließen, dass sie den Verein verlassen dürfen, sollte Fuhr dort Trainer werden.
Julia Simon, Vertrauensperson SV Buxtehude
Auch Julia Simon weiß schon lange um den Ruf von Ex-Trainer André Fuhr, auch wenn sie selbst nie bei ihm trainiert hat. Vom Ausmaß der Vorwürfe und davon, dass Fuhr auch körperlich übergriffig geworden sein soll, hat sie allerdings erst durch die Veröffentlichung erfahren. „Mich macht vor allem sehr betroffen, dass so lange niemand was dagegen getan hat“, so Simon. „Es ist großartig, dass sich jetzt Spielerinnen wehren. Aber es bedrückt mich, dass es so lang gedauert hat.“
In ihrem Verein, dem Buxtehuder SV, ist Simon also jetzt ansprechbar, wenn Spieler:innen Probleme haben. Auch für Eltern hat sie ein offenes Ohr. In ihrer Arbeit würde es hoffentlich nie um einen Fall wie den von Trainer Fuhr gehen, meint sie. Die Vertrauenspersonen seien vor allem für die kleineren Sorgen da. „Wenn eine Spielerin zum Beispiel das Gefühl hat, sie gibt im Training alles, darf dann aber nur fünf Minuten spielen, hilft manchmal ein klärendes Gespräch mit dem Trainer über Selbst- und Fremdwahrnehmung“, so Simon. Sie und ihr Kollege könnten in so einem Fall vermitteln.
Seit etwa vier Wochen sind die beiden jetzt in ihrem neuen Amt und haben auch schon erste Gespräche geführt. Für diese Tätigkeit als Vertrauenspersonen werden sie nicht bezahlt, es sind Ehrenämter.
Wenn eine Vertrauensperson auch noch andere Aufgaben im Verein innehat, könnte das natürlich zu Loyalitätskonflikten führen, meint Nadine Dobler. Sie ist Ansprechpartnerin bei der unabhängigen Beratungsstelle „Anlauf gegen Gewalt“ von Athleten Deutschland. „Andererseits ist es natürlich ein großer Vorteil, wenn eine Vertrauensperson die Anforderungen des Leistungssports so gut selbst kennt“, meint Dobler. Beratungsstellen fehle diese Kompetenz häufig.
Der BSV ist mit seiner Initiative nicht allein. Auch andere Nordklubs wie der VfL Oldenburg und Werder Bremen haben Vertrauenspersonen, an die sich Spieler:innen wenden können. Bei den Handball-Luchsen Buchholz 08 – Rosengarten ist in solchen Fällen Sportmentaltrainerin Maike Koberg ansprechbar. Auch sie ist ehemalige Spielerin und hat sich durch Schulungen weitergebildet. Koberg trifft sich regelmäßig mit Mannschaft und Trainer:innen. Deshalb habe sie einen guten Draht zu den Spielerinnen, meint Sven Dubau, Team-Manager der Handball-Luchse.
Und das System scheint in seinem Verein zu funktionieren: Vor Jahren hatte sich die Mannschaft über einen ehemaligen Trainer bei Maike Koberg beschwert. „Wir haben daraufhin mit dem Trainer gesprochen und ihm Weiterbildungen angeboten“, so Dubau. Auch ein Trainer solle die Möglichkeit haben dazuzulernen. Im konkreten Fall habe sich der Verein dann dazu entschieden, den Vertrag des Trainers nicht zu verlängern. „Solche Prozesse sind ja ganz normal in der Arbeitswelt“, so Dubau. „Das Problem ist das Wegsehen.“
Genau dieses Problem gab es wohl häufig im Umgang mit Ex-Trainer André Fuhr, meint Nadine Dobler. Sie hat über 30 Handballerinnen beraten, die sich wegen ihrer Erfahrungen mit Fuhr an „Anlauf gegen Gewalt“ gewandt haben. Häufig hätten die Spielerinnen in den Vereinen ihre Probleme mit Fuhr klar angesprochen – doch dort habe niemand zugehört oder angemessen reagiert.
„Vereine brauchen Strukturen, in denen Beschwerden ernst genommen werden“, meint Nadine Dobler. Das könnten Vertrauenspersonen sein. „Wenn die Vereinsstrukturen versagen, sind unabhängige Beratungsstellen nötig“, so Nadine Dobler.
Bisher ist „Anlauf gegen Gewalt“ bundesweit die einzige vereins- und verbandsunabhängige Beratungsstelle, die sich mit der Lebenswelt von Sportler:innen auskennt. Bald kommt eine weitere dazu: Das Bundesinnenministerium bringt Anfang 2023 die Anlaufstelle „Save Sport“ an den Start für über 27 Millionen Menschen, die in Deutschland Mitglied in Sportvereinen sind. „Je nachdem, wie das Zentrum ‚Save Sport‘ ausgestattet ist, wird sich zeigen, ob zwei unabhängige Beratungsstellen vor diesem Hintergrund ausreichend sind“, meint Nadine Dobler.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!