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„Kirschgarten“ im Schauspielhaus Hamburg„Wir haben Nachtfrost“

Kann man Theater aus der Sicht von Kirsche, Fuchs und Baum erzählen? Die Regisseurin Katie Mitchel versucht es in Hamburg mit dem „Kirschgarten“.

Bilder, Geräusche, Sprache und Musik werden im „Kirschgarten“ live gemischt Foto: Stephen Cumminskey

Seit Generationen befindet er sich im Familienbesitz, birgt unvergessliche Erinnerungen. Im Frühling gleicht er einem riesigen Blütenmeer. Er habe sogar einen Wikipedia-Eintrag, heißt es einmal. Doch er wird verkauft werden, dieser „Kirschgarten“, den die Regisseurin Katie Mitchell sehr frei nach Anton Tschechow am Schauspielhaus Hamburg inszeniert. Verkauft und abgeholzt.

Jahrelang hat die Guts- und Gartenbesitzerin Ranjewskaja ihr Geld zum Fenster rausgeworfen und Schuldenberge angehäuft. Zu deren Tilgung schlägt der Unternehmer Lopachin vor, den Kirschgarten abzuholzen und auf dem Grundstück gewinnbringende Wochenendhäuser zu errichten. Der Kapitalismus als zerstörerische Kraft.

Eine Komödie hat Tschechow sein letztes, 1903 entstandenes Stück genannt. Eine Komödie und ein Zeitgemälde über den Machtverlust des Adels und das Erstarken des Bürgertums mit ironisch und einfühlsam gezeichneten Figuren, angesiedelt irgendwo zwischen Nostalgie und Erwartung. Doch diese Figuren, kommen bei Katie Mitchell quasi nicht vor. Trotz der elf Spie­le­r*in­nen Paul Behren, Eva Bühnen, Sandra Gerling, Ute Hannig, Sachiko Hara, Jonas Hellenkemper, Christoph Jöde (in der Premiere krankheitsbedingt ersetzt durch Tilmann Strauß), Alan Naylor, Joël Schnabel, Michael Weber und Julia Wieninger.

Diese sind instruiert zum Livegeräuschemachen und werden reduziert auf eine Handvoll künstlich ausgeleuchteter Spielskizzen vor Green Screen. Ihre Textpassagen sind komprimiert auf wenige Satzfetzen. „Wir haben Nachtfrost. Drei Grad unter null, und die Kirschbäume stehen in voller Blüte“ oder „Am 22. Oktober wird der Kirschgarten verkauft“ sind Fragmente, die aus dem vielen unverständlichen Zwischengemurmel herausbrechen.

Reise durch die Natur

Eine Rollenzuordnung ist hier zweitrangig, psychologisches Spiel oder nachvollziehbare Handlungen sind unerwünscht. Denn statt Ranjewskaja, Lopachim, Varja und Co macht Mitchell die Bäume des „Kirschgartens“ zum Protagonisten ihrer Inszenierung.

Das ist ein eigenwilliger, aber mit Blick auf den Klimawandel sicherlich zeitgemäßer Zugriff auf das Stück, dessen Inhalt die Regisseurin voraussetzt. Doch dieser Zugriff ist zugleich auch eine Zumutung. Zum einen für die Darsteller*innen, die eineinhalb Stunden mit Tüchern, Pfeifen und Papieren in einem der beiden puristischen Glaskuben (Bühne: Alex Eales) die eingeblendeten Naturfilme akustisch untermalen, zum anderen für die Zuschauer*innen, die statt eines Theaterstücks eine bilderreiche Reise durch die Natur erleben, begleitet von einem Live-Quartett (im zweiten Glaskubus).

Denn oberhalb der beiden Glaskästen, auf einer dreigeteilten Projektionsfläche, wechseln Fuchs und Hase, Biene und Eule, Sonne und Mond einander ab. Feiern Grant Gree (Video Director) und Ellie Thompson (Videodesign) die Schönheit des Kirschgartens und damit der Natur. Führen in höchst eindrucksvollen Nahaufnahmen durch die vier Jahreszeiten, porträtieren wippende Amseln auf blühenden Kirschbaumzweigen, surrende Bienen an roten, prallen Früchten, zeigen faulende Kirschen im Gras und Eichhörnchen auf kahlen, froststarren Zweigen. Die Dar­stel­le­r*in­nen erschaffen jeweils die Geräusche dazu.

Bald wirkt das Ganze gerade so, als wohne man einer Hörspielaufzeichnung mit Livevideo bei, deren Soundtrack das Streichquartett mit treibenden, atonalen Kompositionen liefert. Diese filmisch-musikalischen Eloge an die Natur ist mehr Installation als anbindendes Theatererlebnis.

Alles ist exakt choreografiert

Ihre Setzung, das Stück aus der Perspektive der Natur zu erzählen, verfolgt Mitchell mit enormer Konsequenz. An diesem Abend ist nichts dem Zufall überlassen, jede Bewegung ist mit höchster Exaktheit choreografiert.

Das wird allerspätestens dann deutlich, wenn das Stück nach dem ersten Baumfällen – mit Kettensäge und flirrenden Sägespänen – wieder rückwärts läuft. Wenn sich die Zeit zurückzudrehen scheint und mit ihr Text, Bilder, Sounds. Einen Zwischenstopp, eine andere Abzweigung wird es nicht geben, das gesamte Stück wird rückwärts erzählt; im Fast-Reverse-Modus bis zu dessen Anfang, der mit großen Lettern von nichts weniger als vom drohenden Untergang erzählt: „Wenn wir weiter die Natur misshandeln, wird sie kollabieren und wir mit ihr.“

Man bewundert ein fein funktionierendes Getriebe und wundert sich, dass es streckenweise einem Horrortrip gleicht. Man bewundert eine auf die Spitze getriebene Perfektion und wundert sich, warum darin statt eines Kirschbaums eine Birke gefällt wird. Man bewundert ein nahezu hermetisches, aseptisches Kunstwerk und wundert sich nicht, dass es einen vollkommen kalt lässt.

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1 Kommentar

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  • Schade, dass „berührt sein“ jede andere Kategorie und Möglichkeit ästhetischen Vergnügens abgelöst hat: Man könnte ja beispielsweise auch meinen, es habe einen inspiriert. (Falls). Aber nein, es muss m_ich „berühren“, Hauptsache, es lässt nicht kalt.. wie öde für eine Kritik. Identifikation ist nicht alles in den Künsten. :/ Zumal auf deutschen Theaterbühnen, wo scheints unvermeidlich immer irgendwann expressionistisch rumgeschrien werden muss..:/ Da klingt diese Inszenierung zwar grauenhaft didaktisch, aber wenigstens mal nicht ganz im immergleichen Expressivpflichtregister… Geben die Akteure mal kurz ihre Stimmen her ;)