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Krieg in der UkraineDer Konflikt friert nicht ein

Mit dem Winter ändert sich der Krieg. Die Soldaten auf beiden Seiten kämpfen nun auch noch mit Matsch, Schnee und eisiger Kälte.

Kämpfe in Kälte und Matsch irgendwo in der Region Donezk Foto: Roman Chop/ap

Die Drohne nähert sich rasch. Sie fliegt am Rand eines Feldes entlang, steht dann in der Luft über einem Erdloch. Elf Soldaten liegen eingekauert darin. Die Kamera der Drohne zeigt, wie eine Granate unter ihr baumelt. Aus der Höhe lässt sie diese fallen. Sie trifft zwei Männer am Rand des Lochs. Langsam und benommen beginnen die anderen, sich aufzurappeln. Sie sind offenbar nicht mehr Herren ihrer Sinne.

Das Video soll an der Front östlich von Bachmut entstanden sein und einen ukrainischen Angriff zeigen. Mit letzter Sicherheit lässt sich das nicht überprüfen. Es wird in diesen Tagen häufig auf Twitter geteilt – als Beleg dafür, wie der Winter den Krieg verändert.

Die Reaktion der Soldaten lässt auf eine mittlere bis schwere Unterkühlung schließen. Sinkt die Körpertemperatur zu stark, werden Betroffene schläfrig und teilnahmslos, die Atmung verlangsamt sich, Muskelstarre setzt ein. Selbst wenn eine Granate neben einem einschlägt, kann man sich kaum noch bewegen.

Nach den militärischen Erfolgen der Ukraine und dem russischen Raketenterror der vergangenen Wochen geht der Krieg mit dem Winter in eine neue Phase. Die Soldaten auf beiden Seiten kämpfen nicht mehr nur mit dem Gegner, sondern auch mit Matsch, Nässe und Kälte. Ausrüstung und Logistik spielen eine noch größere Rolle.

Überlebenswichtig: Wärmestationen

Infantristen, die in Schützengräben oder Erdlöchern an der Front ausharren, müssen regelmäßig in Wärmestationen zurückkehren, um sich aufzuwärmen und in trockene Kleidung wechseln zu können. Kahle Bäume und Sträucher bieten im Winter wenig Deckung. Soldaten bewegen sich deshalb öfter am Boden fort, was Kleidung noch schneller durchnässen lässt. Die ukrainische Armee wird von Nato-Ländern wie Kanada mit moderner Winterkleidung beliefert. Aus Russland gibt es hingegen Berichte, dass sich Rekrutierte ihre Ausrüstung teils selbst kaufen müssen.

Einige Militärexperten erwarten, dass allein Nässe und Kälte in diesem Winter Tausende Todesopfer fordern könnten – wegen mangelnder Ausrüstung vor allem auf russischer Seite. Russische Soldaten berichten zudem, dass frisch rekrutierte Kräfte ohne große Vorbereitung an die Front geworfen und gnadenlos aufgerieben werden.

Der Militäranalyst und ehemalige US-General Ben Hodges beschreibt das als zynische Strategie: „Sie tauschen Menschenleben gegen Zeit“, sagte er in einem Podcast des Economist: Mit den Raketenangriffen auf die Infrastruktur versuche Wladimir Putin, Druck auf Wolodomir Selenskis Regierung auszuüben und Millionen Menschen zur Flucht in EU-Staaten zu treiben. Die aufnehmenden Länder würden, so das Kalkül, irgendwann ihre militärische Unterstützung einstellen. Um die Zeit dafür zu gewinnen, verheize Russland an der Front zurzeit Rekruten.

Matsch oder Dauerfrost

Über eine Länge von 1.200 Kilometern erstreckt sich die Front im Osten der Ukraine – mit unterschiedlichen geografischen und militärischen Gegebenheiten. Große Aktionen mit Radfahrzeugen sind auf schlammigen Böden zurzeit nicht möglich. Rasputiza, die „Zeit ohne Wege“, dauert vom Oktober bis in den Dezember hinein. In den südlichen Oblasten Saporischschja und Cherson sind die Winter meist mild, die Böden nicht gefroren. In Donezk und Luhansk dagegen ist im Januar bei Dauerfrost der Boden so hart, dass man abseits befestigter Straßen fahren kann.

„Es ist ein Trugschluss, dass der Krieg im Winter weitgehend zum Stillstand kommt“, sagt Christian Mölling. Er ist Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Mölling erwartet, dass ab Januar das Kampfgeschehen wieder zunimmt. Das habe man schon früher erlebt. Im Januar und Februar 2015 fand die Schlacht um Debalzewe statt. Auf dem gefrorenen Boden setzte Russland damals auch Kampfpanzer ein und gewann.

„Ich glaube, im Osten wird man weiter eine Materialschlacht sehen, ohne dass sich beim Frontverlauf groß etwas bewegt“, sagt Mölling. „Die Ukraine wird wahrscheinlich versuchen, nach der Befreiung von Cherson im Süden der Front weiter vorzurücken.“ Die russische Armee hat sich nach ihrem Rückzug über den Dnipro in mehreren Verteidigungslinien eingegraben. Ein Vorrücken der Ukrainer Richtung Krim soll um jeden Preis verhindert werden.

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Für die Ukraine wäre es gefährlich, wenn sich der Krieg über den Winter in einem Stellungskampf festfährt. Es würde an der eigenen Kampfmoral zehren, aber auch in den Nato-Ländern wieder jene Stimmen lauter werden lassen, die die militärische Unterstützung infrage stellen. „Es ist wichtig, dass die Ukraine für den Winter ein neues Narrativ setzen kann, das das Absacken der Unterstützung verhindert“, sagt Mölling.

Mit anderen Worten: Auch beim Kampf um die öffentliche Meinung ist die Ukraine auf Erfolgsmeldungen angewiesen.

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3 Kommentare

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  • Was soll da auch groß einfrieren, solange das erklärte Ziel der einen Seite die die vollständige Liquidierung der Anderen ist? Das taut doch sofort wieder auf, sobald sich eine Gelegeheit bietet Dem näherzukommen.

  • Der Konflikt friert nicht von selbst ein. Er müsste eingefroren werden, da es keine dauerhafte Lösung aktuell gibt. Einfach um das Morden beenden, Menschenleben zu retten, den Klimawandel zu priorisieren, die Hungernden in Afrika nicht weiter zu vergessen etc. etc.

    Wir brauchen dringend Kriegsmüdigkeit, allseits, sonst geht der Krieg immer weiter.

  • Krieg ist Scheiße.



    Die oben beschriebenen Situationen waren erwartbar .



    Die zwischenzeitliche Euphorie wird von der bitteren Realität abgelöst.



    Dieser Krieg ist nicht zu gewinnen, man kann ihn nur verlängern.



    Da die Fronten, auch in den Köpfen der Akteure, verhärtet sind, muss eine dritte Partei Verhandlungen anstrengen. Ich wünsche mir hier eine Initiative der EU.



    Abgesehen von der Propaganda beider Länder gehen die USA von 100.000 russischen und 100.000 ukrainischen getöteten Soldaten sowie 40.000 getöteten ZivilistInnen aus.



    Genug ist genug. Erfrorene und Verhungerte müssen die Liste nicht auch noch verlängern.



    Es muss gemeinsam eine Zukunftsperpektive entwickelt werden.



    Krieg kann sie micht heißen.