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Flucht aus der UkraineExodus mit ungewissem Ausgang

Ein Riss geht durch die ukrainische Gesellschaft. Er trennt die Dagebliebenen von denen, die das Land verlassen haben.

Die einen bleiben, die andere fahren: Abschiedsszene am Bahnhof Odessa, April 2022 Foto: Graham Martin/ZUMA/imago

J edes ukrainische Kind liest in der Schule ein Buch, das bei uns als Klassiker gilt: „Das Steinkreuz“ von Wassil Stefanik. Es ist eine Geschichte über Emigration. Der Hauptheld nimmt Abschied von der heimatlichen Erde, bevor er sie für immer verlässt – nach Kanada. Dort findet man bis heute die größte ukrainische Diaspora weltweit. Als Kind fand ich es schwer vorstellbar, dass so ein Massenexodus einmal unsere Realität werden könnte. Heute fliehen Ukrainer vor dem Krieg in alle möglichen Länder und schaffen sich vor Ort neue Gemeinschaften. Sie unterstützen die Ukraine weiterhin, haben aber häufig nicht mehr vor zurückzukehren.

Война и мир – дневник

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Schon jetzt spürt man wie die Gesellschaft auseinanderdriftet. Es gibt die, die das Land verlassen haben und die, die geblieben sind. Diejenigen, die nach Europa geflohen sind, schlagen sich mit einer für uns ungewohnten Bürokratie herum und damit, dass vieles aus dem ukrainischen Leben dort fast surreal klingt: So sind schnelles Onlinebanking oder Supermärkte, die rund um die Uhr geöffnet haben, für Europäer nicht selbstverständlich.

Diejenigen, die geblieben sind, verurteilen oft die Geflüchteten, weil sie meinen, dass Kyjiw oder Lwiw schon lange wieder sichere Städte sind und es an der Zeit sei zurückzukommen. Ein wichtiger Aspekt: Die meisten derjenigen, die die Ukraine verlassen haben, sind Frauen, weil die wehrpflichtigen Männer nicht ausreisen können. Und deshalb wird jeder Mann mit ukrainischem Pass, egal ob er legal oder illegal ausgereist ist, als Verräter betrachtet.

Wir Ukrainer sind mittlerweile über den ganzen Erdball verstreut. Wir haben zwar unseren eigenen Staat, aber fahren in andere Städte und Länder, wo wir außer mit Hilfsbereitschaft auch mit Diskriminierung konfrontiert werden, mit Vorurteilen gegenüber Flüchtlingen und leider auch mit prorussischen Demonstrationen.

Roman Huba

stammt aus der Ostukraine und war nach Beginn des Krieges im Donbass 2014 nach Kyjiw gekommen. Am ersten Kriegstag 2022 war er nach Lwiw geflohen, nach 100 Tagen ist er zurück in Kyjiw. Er war Teilnehmer eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung.

Fast alle mir nahestehenden Menschen sind gegangen. Sie sind jetzt in Bulgarien, Deutschland, Finnland – und bauen sich dort ein neues Leben auf, ohne zu wissen, ob sie irgendwann zurückkommen können. Nur eines kann man mit Sicherheit sagen: Kein einziger von ihnen wollte fliehen. Sie haben ihr Land nicht auf der Suche nach einem besseren Leben verlassen.

Sie sind nicht schuld daran, dass die Preise in den Geschäften steigen und die europäischen Regierungen ihre Bevölkerung zum Sparen anhalten. Es ist nicht den ukrainischen Frauen und Kindern anzulasten, dass es in den Städten keine freien Wohnungen gibt, und sie sind auch nicht Schuld daran, dass kein billiges russisches Gas mehr durch die Leitungen fließt.

Ich denke, das ist allen klar. Nur nicht denjenigen, die fordern, dass die Ukraine Russland zum Fraß vorgeworfen wird und „alles wird wie früher“. Aber so wie früher wird es nicht mehr. Wir, die wir Millionen Menschen als Flüchtlinge verloren haben, wissen das so gut wie niemand anderes.

Aus dem Russischen Gaby Coldewey

Finanziert wird das Projekt von der taz Panter-Stiftung.

Einen Sammelband mit den Tagebüchern hat der Verlag edition.fotoTAPETA im September herausgegeben.

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