Flucht aus der Ukraine: Exodus mit ungewissem Ausgang
Ein Riss geht durch die ukrainische Gesellschaft. Er trennt die Dagebliebenen von denen, die das Land verlassen haben.
J edes ukrainische Kind liest in der Schule ein Buch, das bei uns als Klassiker gilt: „Das Steinkreuz“ von Wassil Stefanik. Es ist eine Geschichte über Emigration. Der Hauptheld nimmt Abschied von der heimatlichen Erde, bevor er sie für immer verlässt – nach Kanada. Dort findet man bis heute die größte ukrainische Diaspora weltweit. Als Kind fand ich es schwer vorstellbar, dass so ein Massenexodus einmal unsere Realität werden könnte. Heute fliehen Ukrainer vor dem Krieg in alle möglichen Länder und schaffen sich vor Ort neue Gemeinschaften. Sie unterstützen die Ukraine weiterhin, haben aber häufig nicht mehr vor zurückzukehren.
Чтобы как можно больше людей смогли прочитать о последствиях войны в Украине, taz также опубликовал этот текст на русском языке: here.
Schon jetzt spürt man wie die Gesellschaft auseinanderdriftet. Es gibt die, die das Land verlassen haben und die, die geblieben sind. Diejenigen, die nach Europa geflohen sind, schlagen sich mit einer für uns ungewohnten Bürokratie herum und damit, dass vieles aus dem ukrainischen Leben dort fast surreal klingt: So sind schnelles Onlinebanking oder Supermärkte, die rund um die Uhr geöffnet haben, für Europäer nicht selbstverständlich.
Diejenigen, die geblieben sind, verurteilen oft die Geflüchteten, weil sie meinen, dass Kyjiw oder Lwiw schon lange wieder sichere Städte sind und es an der Zeit sei zurückzukommen. Ein wichtiger Aspekt: Die meisten derjenigen, die die Ukraine verlassen haben, sind Frauen, weil die wehrpflichtigen Männer nicht ausreisen können. Und deshalb wird jeder Mann mit ukrainischem Pass, egal ob er legal oder illegal ausgereist ist, als Verräter betrachtet.
Wir Ukrainer sind mittlerweile über den ganzen Erdball verstreut. Wir haben zwar unseren eigenen Staat, aber fahren in andere Städte und Länder, wo wir außer mit Hilfsbereitschaft auch mit Diskriminierung konfrontiert werden, mit Vorurteilen gegenüber Flüchtlingen und leider auch mit prorussischen Demonstrationen.
stammt aus der Ostukraine und war nach Beginn des Krieges im Donbass 2014 nach Kyjiw gekommen. Am ersten Kriegstag 2022 war er nach Lwiw geflohen, nach 100 Tagen ist er zurück in Kyjiw. Er war Teilnehmer eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung.
Fast alle mir nahestehenden Menschen sind gegangen. Sie sind jetzt in Bulgarien, Deutschland, Finnland – und bauen sich dort ein neues Leben auf, ohne zu wissen, ob sie irgendwann zurückkommen können. Nur eines kann man mit Sicherheit sagen: Kein einziger von ihnen wollte fliehen. Sie haben ihr Land nicht auf der Suche nach einem besseren Leben verlassen.
Sie sind nicht schuld daran, dass die Preise in den Geschäften steigen und die europäischen Regierungen ihre Bevölkerung zum Sparen anhalten. Es ist nicht den ukrainischen Frauen und Kindern anzulasten, dass es in den Städten keine freien Wohnungen gibt, und sie sind auch nicht Schuld daran, dass kein billiges russisches Gas mehr durch die Leitungen fließt.
Ich denke, das ist allen klar. Nur nicht denjenigen, die fordern, dass die Ukraine Russland zum Fraß vorgeworfen wird und „alles wird wie früher“. Aber so wie früher wird es nicht mehr. Wir, die wir Millionen Menschen als Flüchtlinge verloren haben, wissen das so gut wie niemand anderes.
Aus dem Russischen Gaby Coldewey
Finanziert wird das Projekt von der taz Panter-Stiftung.
Einen Sammelband mit den Tagebüchern hat der Verlag edition.fotoTAPETA im September herausgegeben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Klimaziele der EU in weiter Ferne
Neue Klimaklage gegen Bundesregierung
Serpil Temiz-Unvar
„Seine Angriffe werden weitergehen“