Energievorräte in der Ukraine: Mit Wolldecke und Dieselgenerator
Weil sie im Winter mit mehr russischen Angriffen auf die Infrastruktur rechnen, sorgen Ukrainer*innen vor. Dabei sind sie überraschend optimistisch.
Doch nun muss das Land selbst sparen. Nach den Raketenangriffen vom 10. Oktober, bei denen auch Wärmegeneratoren und Umspannwerke, wie das Wärmekraftwerk Burschtyn in der Westukraine, getroffen wurden, wandte sich der Bürgermeister von Luzk, Igor Politschuk, an die Bevölkerung mit dem Aufruf, Strom einzusparen. Und obwohl in Luzk keine Raketen eingeschlagen sind, versteht jeder, dass der Strom jetzt in anderen Regionen dringender benötigt wird.
„Besorgen Sie sich zusätzliche Decken und Schlafsäcke. Bevorraten Sie sich mit Feuchttüchern – mit denen kann man sich auch reinigen, wenn es keine Dusche gibt. Kerzen sind empfehlenswert – sie geben nicht nur Licht, sondern wärmen auch ein bisschen. Auch Powerbanks, Rundfunkempfänger und viele Batterien sind unerlässlich. Wenn Ihnen kalt ist, können Wärmesalben Sie schnell wieder aufwärmen. Man sollte sie auf den unteren Rücken auftragen.“ Das sind Ratschläge, die Ukrainer aktuell im Internet zu Beginn des Winters erhalten.
Gas sollte den Ukrainern ausreichend zur Verfügung stehen, davon sind Experten und Verwaltungsbeamte überzeugt. Das Problem ist ein anderes. Seit dem 24. Februar wurden in der Ukraine 322 Kesselanlagen, 10 Energieschaltzentralen und zwei Wärmekraftwerke beschädigt. Und die Liste wird jeden Tag länger.
Mehr Gas, als sie brauchen
Einer der Gründe für die notwendige Zwangsevakuierung der Menschen aus dem Osten des Landes war, dass es nicht mehr möglich war, sie dort mit Wärme zu versorgen. Alle Strom- und Gasleitungen waren zerstört. Die Behörden bereiten das Land auf russische Terroranschläge auf Kesselanlagen, Kraftwerke und Energieschaltzentralen vor.
Im Energieministerium ist man der Ansicht, dass die Ukraine in diesem Winter 11,7 Milliarden Kubikmeter Gas benötigt, 40 Prozent weniger als im letzten Winter. In den unterirdischen Gasspeichern der Ukraine sind jetzt noch 13 Milliarden Kubikmeter und zu Beginn der Heizperiode werden es 14,4 Milliarden sein.
Der Konzernchef des staatlichen ukrainischen Gas-Netzbetreibers, Serhij Makohon, hält es für realistisch, mit diesen Vorräten einen nicht allzu kalten Winter zu überstehen, da der Gasverbrauch aufgrund der kriegsbedingten Zerstörungen stark zurückgegangen ist.
Der Vorsitzende des parlamentarischen Energieausschusses, Andrij Gerus, erwartet russische Raketenangriffe vor allem in den kältesten Monaten, von November bis März. Die Regierung hat für den Fall des Beschusses mobile Wasseraufbereitungsanlagen, Tanklastwagen, diesel- und gasbetriebene Stromgeneratoren und Festbrennstoffkessel gekauft.
Kommunistische Energiepreise
Energieminister Herman Haluschtschenko hat noch auf ein anderes Problem aufmerksam gemacht: Wenn Russland im Winter den Gas-Transit durch die Ukraine vollständig einstellt, wie es das nach den Sabotageakten an den Nordstream-Pipelines versprochen hat, bräuchte Kyjiw zusätzliches Gas. Das ist nötig, damit die Kompressoren den Druck im Gasleitungssystem aufrechterhalten, damit dort weiter Gas transportiert werden kann.
Dabei ist Gas für die Bevölkerung der Ukraine nicht teuer, wenn man es mit den Gaspreisen in Europa vergleicht. Im August hatte Präsident Selenski ein Gesetz unterzeichnet, mit dem die Erhöhung der Preise für die Dauer des Kriegszustandes und die ersten sechs Monate nach Kriegsende gedeckelt werden: eine Erhöhung der Preise für Strom, Wärme, Warmwasser und Gas ist somit nicht erlaubt.
So verkauft zum Beispiel der staatliche Monopolist Naftogaz im Oktober Gas für 8 Hrywnja (umgerechnet 19 Cent) pro Kubikmeter. Das ist ein echt „kommunistischer“ Preis, aber die Regierung hat ihn wegen der katastrophalen Einkommensverhältnisse der meisten Ukrainer festgelegt.
In allen ukrainischen Großstädten hat Naftogaz die Versorgung um 10 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gesenkt. Einfacher ausgedrückt: in den Wohnungen wird es kälter, weil, um Gas zu sparen, das Wasser in den Heizkörpern nicht mehr so stark erwärmt wird. An den kältesten Tagen ist eine Absenkung der Temperatur in den Wohnungen auf 16 Grad möglich. Oder auch eine vollständige Abschaltung der Warmwasserversorgung.
Folie statt Fensterscheiben
In Saporischschja – die Stadt liegt zurzeit direkt an der Frontlinie – hat die Stadtverwaltung schon jetzt die zentrale Warmwasserversorgung eingestellt. Jetzt muss jede Familie selber sehen, wie sie ihre Wohnung mit Warmwasser versorgt. Damit kann die Stadt 15 Prozent ihres bisherigen Gasverbrauchs einsparen.
Die lokalen Energieversorger bereiten sich auch auf den schlimmsten Fall vor: dass die Heizkessel im Winter aufgrund von Gas- oder Strommangel und niedrigem Wasserdruck ausfallen. Dann wird das Wasser aus den Leitungen abgelassen, damit es nicht in den Rohren einfriert.
Boris Filatow, Bürgermeister der Frontstadt Dnipro, zieht verschiedene Szenarien für das Verhalten der russischen Armee in Betracht. „Es wird schwierig für sie, alle Heizkraftwerke und Wasserentnahmestellen der Stadt gleichzeitig zu zerstören, und die Stadt hat ein System zur Stromumschaltung“, so Filatow. Dnipro kauft derzeit Hochleistungsgeneratoren, die bei Bedarf die Unternehmen bei der Wärme- und Wasserversorgung unterstützen.
In der Hafenstadt Mykolajiw gibt es wegen des Dauerbeschusses in vielen Häusern keine Fensterscheiben mehr. Die Behörden versuchen, diese durch Folie zu ersetzen. „Dies mindert den Wärmeverlust für die Bewohner“, sagt Bürgermeister Oleksandr Senkewitsch. Er hat versprochen, dass auf jeden Fall die Heizkessel in Betrieb genommen werden, aber bittet die Menschen sich im Falle eines Beschusses zu gedulden: Die Reparaturen brauchen Zeit, in der die Einwohner von Mykolajiw zumindest nicht erfrieren sollten.
Heizkessel aus Deutschland
Andrij Sadowij, Bürgermeister der westukrainischen Großstadt Lwiw, rät den Menschen, sich mit Brennholz zu bevorraten. Die Stadtverwaltung hat ein Video aufgenommen, in dem die Katze, die im Büro des Bürgermeisters lebt, erklärt, wie man leichter durch den Winter kommt.
Und Kyjiws Stadtoberhaupt Vitali Klitschko rät zur Anschaffung warmer Kleidung und Wolldecken. Die Behörden der Hauptstadt haben mobile Heizkessel für den Notfall angeschafft und werden auch Wärmehallen einrichten. Die Heizkessel und Generatoren haben sie beim deutschen Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit angefordert. In der Hauptstadt kann man zudem Büros schließen, die in der Heizsaison ausschließlich durch ein Zentralheizungssystem versorgt werden.
Georgi Nikolajiw, Experte der Consultingfirma CBRE Ukraine, sagt, dass die Stadt im Winter vorrangig Wohnungen, Krankenhäuser, Kindergärten und Schulen heizen muss. Daher kann es passieren, dass Büroangestellte bei strenger Kälte ins Homeoffice wechseln müssen, so wie sie es während des Coronalockdowns getan haben.
In Schulen und Universitäten spricht man inoffiziell schon davon, dass Schüler und Studierende nicht mehr lange offline lernen werden. Auch sie werden wieder zu Homeschooling und Online-Lernen zurückkehren, um bei der Beheizung von Bildungseinrichtungen zu sparen.
Aus dem Land herrscht Zuversicht
Bereits im Sommer haben die Ukrainer damit begonnen, Dieselgeneratoren zu kaufen, um sich zu Hause selber mit Strom versorgen zu können. Die Bewohner von Mehrgeschossern, die vor 30 oder 50 Jahren gebaut wurden und nicht mit eigenen Heizkesseln ausgestattet sind, kaufen elektrische Heizungen. Dabei besteht allerdings die Gefahr, dass die alten Leitungen überlastet werden. Sie müssen jetzt überprüft werden.
Orest Holjak, Mitarbeiter des Unternehmens Wolhynoblenergo, meint jedoch beruhigend: „Wenn die Russen irgendwas zerstören, dann wird nach höchstens ein paar Stunden der Strom aus einer anderen Ecke der Ukraine kommen.“
Soziologen haben überraschend festgestellt, dass die Ukrainer dem kommenden Winter optimistisch gegenüberstehen: 70 Prozent der Anfang September befragten Bürger gaben an, dass sie mehr oder weniger auf mögliche Heizprobleme vorbereitet seien. Am optimistischsten sind zu Beginn der Kälterperiode diejenigen, die nicht in Städten leben.
Die Ukrainer bereiten sich auf den Plan B vor – wenn die Energieversorgung für einen längeren Zeitraum unterbrochen wird. Die einen isolieren ihre Wohnungen, andere treffen Absprachen mit Bekannten, die auf dem Land leben und einen Ofen haben.
Neben dem Notfallrucksack für den Fall eines Luftalarms kann jede städtische Familie einen weiteren Rucksack für die kalte Jahreszeit haben, der Lebensmittelvorräte, eine Powerbank, Thermounterwäsche, eine Taschenlampe, einen Gaskocher, Trockenbrennstoff, Kerzen und Streichhölzer enthält.
Aus dem Russischen Gaby Coldewey
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