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Politische Bildungsarbeit in SachsenZukunft in Zwickau

Seit 2019 finanziert das sächsische Sozialministerium Zukunftsworkshops in Sachsen. Die taz war bei einer solchen „Zeitreise in die Zukunft“ dabei.

Mitten in Zwickau Foto: picture alliance/dpa/Sebastian Willnow

Zwickau taz | Am Ende steht es zehn zu fünf. Zehn Schülerinnen und Schüler stellen sich in jene Ecke des Projektraums, in der sich die Skeptiker sammeln. Nichts Gutes bringe die Zukunft, eher mache sie die Dinge komplizierter. Die politischen Ränder werden stärker, sagt einer, die Krisen seien kaum mehr zu bewältigen, meint ein anderer. Eine Schülerin fürchtet ein konservatives Rollback. „Die Diskriminierung nimmt zu, Rechte wie das auf Abtreibung werden eingeschränkt.“

Die fünf, die eher optimistisch in die Zukunft blicken, halten dagegen. Einer begreift die Zukunft auch als Herausforderung, als Motivation, sich einzumischen. „Wir sollten partizipieren, damit die Polarisierung der beiden Lager nicht noch größer wird“, sagt er.

Die beiden Lager, die sich in diesem „Zukunftsworkshop“ im Zwickauer Käthe-Kollwitz-Gymnasium an zwei sonnigen Oktobertagen gegenüberstehen, sind die Verfechter der Demokratie und die, die sie abschaffen wollen. Ein Szenario mit realem Hintergrund. Denn am Abend des ersten Tages haben einige der Teilnehmerinnen und Teilnehmer wieder einmal erleben können, mit welchen Parolen Letztere in Zwickau auf die Straße gehen.

Die Bedrohung ist real

„Widerstand“ hieß es auf einem Transparent der „Montagsdemonstration“ auf dem Hauptmarkt der 100.000 Einwohner zählenden Stadt in Westsachsen. „Widerstand“ skandierten die Demonstranten auch, als sie anschließend durch die Altstadt marschierten.

„Ich habe zum ersten Mal seit der Wende Angst um die Demokratie“, sagt am nächsten Morgen Dorit Seichter.

Dorit Seichter unterrichtet am Kollwitz-Gymnasium den Geschichte-Leistungskurs. Debatten findet sie wichtig, seit vielen Jahren schon organisiert sie deshalb das Veranstaltungsformat „Schule im Dialog“. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) hat einen Besuch in der Schule angekündigt, Sahra Wagenknecht wird ihr neues Buch vorstellen.

An den beiden Oktobertagen überlässt Seichter den Unterricht zwei Praktikern der politischen Bildung und ihrem Zukunftsworkshop. Um Verschwörungsdenken soll es gehen und darum, wie die Zukunft 2045 aussieht.

Aufgabe: Spielt eine Szene, in der es um das Ringen um die Wahrheit geht, um Fake News, um die Argumente der Wissenschaft, um die Zweifel, sich zwischen allem zu positionieren. Welches „Freeze“, also eingefrorenes Szenenbild, fällt euch ein?

Eine Gruppe positioniert sich in der Mitte des Stuhlkreises. Der Zweifler greift sich ans Kinn. In einigem Abstand steht einer, der mit dem Finger auf den Zweifler zeigt. Blaming. Hinter ihm kniet jemand und himmelt ihn an. Ein anderer steht daneben und tippt sich mit dem Finger an die Schläfe. Dann die Auswertung: Der Zweifler ist in der Defensive, sagt einer. Eine offene Situation, meint ein anderer.

Das Grundgesetz im Würgegriff

Das Freeze, das eine Gruppe darstellt, in der nicht Jungs, sondern Mädchen in der Mehrzahl sind, ist nicht offen. Ein Mädchen hält das Grundgesetz hoch. Von hinten nimmt sie eine in den Würgegriff. Eine andere attackiert mit einer Schere. Nur eine stellt sich vor das Mädchen mit dem Grundgesetz. Die Schülerinnen und Schüler, die die Szene sehen, klatschen. Ist die Situation noch beherrschbar oder ist sie schon dabei, gefährlich zu werden?

„Es gab schon Workshops, in denen es richtig gekracht hat unter den Schülern“, sagt Paul Kuder. Der 43-Jährige hat an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) Kulturwissenschaften studiert, in Dresden über Heidegger und Kierke­gaard promoviert, seit einigen Jahren arbeitet er für den Verein Zeitgeist in der politischen Bildungsarbeit. „Die meisten Träger arbeiten in der politischen Bildung mit Rollenspielen“, sagt Kuder. Eine EU-Ratssitzung oder eine Bundestagsdebatte über die Maskenpflicht. „So können die Schülerinnen und Schüler verschiedene Perspektiven einnehmen und entsprechend argumentieren.“ Das Lernziel eines solchen Rollenspiels: Demokratie ist nicht einfach, es braucht Zeit, Kompromisse zu finden, aber am Ende sind die Kompromisse tragfähiger als eine Entscheidung, die im Alleingang getroffen wird.

Kuder, der am Zwickauer Kollwitz-Gymnasium den Workshop im Rahmen des Programms „Weltoffenes Sachsen für Demokratie und Toleranz“ anbietet, hat einen anderen Ansatz. Statt eine Bundestagsdebatte nachzuspielen, sollen sich die Schülerinnen und Schüler in die Zukunft beamen. „Indem sie in verschiedenen Szenarien in die Zukunft sehen, machen sich die Schüler bewusst, welche Konsequenzen politische und gesellschaftliche Entwicklungen haben.“

Seit 2019 bieten Kuder und seine Kollegen die Workshops in Sachsen an. Bis 2022 machten sie die Schülerinnen und Schüler zu „Zeitzeugen der Zukunft“. In der zweiten Projektphase tragen die Workshops nun, wie auch der in Zwickau, den Titel „Jugend schreibt Zukunft“. Der Höhepunkt ist dabei die szenische Darstellung möglicher Zukünfte am zweiten Workshoptag.

Was in Zukunft wichtig ist

Am Ende des ersten Tags geht es um die Dinge, die in Zukunft wichtig sein werden. Auf einem Flipchart werden die Themen gesammelt. Dann werden sie geclustert zu Trends. Künstliche Intelligenz ist einer von ihnen, Energie ein anderer, dazu kommen Kommunikation, Gesundheit und Pflege, Bildung und Arbeit.

Beim anschließenden Brainstorming stellt sich heraus, dass fast alle Schülerinnen und Schüler mit Themen wie Metaverse, technologischer Singularität oder Brain-Computer-Interface vertraut sind. Mehrfach fällt die Aussage, dass die Lebensmittel in Zukunft aus dem Drucker kommen werden.

„Die Pandemie hat uns dabei geholfen, dass man sich mehr an Szenarien vorstellen kann als zuvor“, sagt Thomas Mehlhausen, der zusammen mit Paul Kuder das Konzept für die inzwischen mehr als 50 Workshops entwickelt hat. Als Projektleiter des Zeitgeist-Vereins hat Mehlhausen viel Lob für das Toleranzprogramm der sächsischen Sozialministerin Petra Köpping (SPD) übrig. „Das Ministerium lässt den Trägern der politischen Bildung viel Freiraum.“ Die Förderung wurde inzwischen von einem Jahr auf die Dauer von drei Jahren ausgeweitet. „Das gibt Planungssicherheit“, sagt Mehlhausen. In anderen Bundesländern seien die bürokratischen Hürden höher.

Einer, der zu denen gehört, die sich nicht bange machen lassen wollen, sagt: Wenn ich sage, es wird schlechter, dann ergebe ich mich dem Gefühl, dass es schlechter wird

67 Demokratieprojekte mit einem Finanzierungsvolumen von 7 Millionen Euro werden 2022 im Rahmen des Toleranzprogramms gefördert. „Mit dem Landesprogramm Weltoffenes Sachsen leisten wir einen Beitrag zur Sicherung von Strukturen und Expertise im Bereich der demokratischen Bildungsarbeit in Sachsen“, ist Petra Köpping überzeugt. „Gerade in der heutigen Zeit ist es wichtig, Engagement nachhaltig zu fördern.“

Wie spielt man die Zukunft? Paul Kuder sagt am Morgen des zweiten Tags: „Denkt euch drei Alltagssituationen aus, die im Jahr 2045 spielen. Was bedeutet es für jeden, in der Gesellschaft der Zukunft zu leben?“ Sein Workshoppartner Stephan Felsberg ergänzt: „Wer sind die Gewinner, wer die Verlierer? Und wie blickt man in der Zukunft auf das Jahr 2022 zurück? War da alles besser?“

Zwei Stunden haben die Schülerinnen und Schüler nun Zeit. Kuder und Felsberg haben Perücken mitgebracht, Sonnenbrillen, Bärte zum Ankleben. Drei Gruppen mit jeweils fünf Schülern spielen je drei Szenen. Neun Einblicke in die Zukunft werden also entstehen, die in einer Feedbackrunde diskutiert werden. Die Szenen werden mit einem Audiogerät aufgenommen und schließlich auf der Webseite von „Jugend schreibt Zukunft“ veröffentlicht.

Die Mädchengruppe ist an der Reihe. Nachrichtensendung. Großbritannien im Jahr 2045. Charles Webster kam 2028 durch demokratische Wahlen an die Macht. Er schloss die Schere zwischen Arm und Reich. Weitere Wahlen gab es nicht. Webster strebt die Alleinherrschaft mit Hilfe einer VR-Brille an. Doch die Nachrichtensendung, die die fünf Schülerinnen aus der elften und zwölften Klasse des Geschichte-Leistungskurses spielen, zeigt, dass es nach wie vor Unruhe gibt in der Bevölkerung. Also verkündet die Sprecherin, die Queen sei wieder auferstanden. Fake News, klar, einige kichern. „Mit dem Hinweis auf Tradition versucht sich Webster eine Legitimität zu verschaffen“, sagt eine Schülerin anschließend in der Feedbackrunde. Zuvor muss sie noch mit ansehen, wie mitten in der Nachrichtensendung eine Demonstrantin abgeführt wird.

Utopien oder Dystopien? Die meisten der drei Gruppen entscheiden sich für Letzteres. Auch das vielleicht ein Grund, warum es am Ende zehn zu fünf steht.

Einer, der zu denen gehört, die sich nicht bange machen lassen wollen, sagt: „Wenn ich sage, es wird schlechter, dann ergebe ich mich dem Gefühl, dass es schlechter wird.“ Worte wie diese hört Lehrerin Dorit Seichter gerne.

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