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Gewerkschaften und SozialprotesteLauwarmer Herbst

Kommentar von Thomas Gesterkamp

Die meisten Gewerkschaften scheuen den Konflikt mit der SPD und überlassen Proteste weitgehend der AfD. Diese Klüngelei war historisch nicht immer so.

Michael Vassiliadis (li) bei der Vorstellung des Vorschlags der Unabhängigen Kommission Erdgas und Wärme Foto: Chris Emil Janssen/imago

B ei der Vorstellung der “Gaspreisbremse“ zeigte sich ein irritierendes Bild: Michael Vassiliadis, Chef der drittgrößten Mitgliedsorganisation im Deutschen Gewerkschaftsbund, trat als eine Art informeller Regierungssprecher vor Kameras und Mikrofone. Unter dem Motto “Sicher durch den Winter“ erläuterte der Vorsitzende der IG Bergbau-Chemie-Energie die Idee, Privathaushalten einen Monatsabschlag der Heizkostenrechnung als mageres staatliches Weihnachtsgeschenk zu erstatten. Preisbegrenzungen hingegen soll es frühestens im März oder April nächsten Jahres geben.

Gebremst wird also paradoxerweise erst dann, wenn es im Frühling nicht mehr so dringlich ist. Zudem wird die Industrie nach den Plänen eindeutig priorisiert. Die Unternehmen sollen sieben Cent pro Kilowattstunde zahlen, Privatleute zwölf. Weiterhin profitieren Gewerbebetriebe schon ab Januar 2023 von den günstigeren Konditionen – mit der Begründung, die finanzielle Entlastung sei dort wegen einer klareren Datenbasis leichter umsetzbar.

Gewerkschafter Vassiliadis von der IG-Bergbau-Chemie-Energie repräsentiert eine Branche, die stark betroffen wäre, falls Energie in den nächsten Monaten wirklich knapp werden sollte. In der “Kommission Gas und Wärme“, die das Konzept ausgearbeitet hat, vertrat er vorrangig die Interessen der eigenen Klientel. Die Beschäftigten der Aluminiumhersteller zum Beispiel benötigen in ihren Produktionsabläufen besonders viel Energie. Deren Jobs sichern zu wollen, ist ein verständliches gewerkschaftliches Anliegen. Doch müssen Arbeitnehmervertretungen deshalb die Politik einer sozialdemokratisch geführten Regierung kritiklos unterstützen?

Statt mit oppositionellen Kräften kooperiert der DGB in bekannter Manier mit der SPD. Die Gewerkschaften verlangen zwar finanzielle Entlastungen für Menschen mit geringem oder mittlerem Einkommen und eine höhere Besteuerung von Vermögenden. Die Straßenproteste gegen teure Energie und hohe Inflationsraten aber überlassen sie weitgehend der AfD. Die eigentlich dafür prädestinierte Linkspartei ist durch interne Konflikte geschwächt und meist mit sich selbst beschäftigt. Zusätzlich schreckt ab, dass Regierungsmitglieder wie Innenministerin Nancy Faeser die Demonstrationen, ähnlich wie schon in der Corona-Krise, pauschal unter den Verdacht der “Demokratiefeindlichkeit“ gestellt haben.

Anders in Großbritannien und Österreich

Die aktuellen gewerkschaftlichen Forderungen für die kommenden Tarifrunden in der Metallindustrie und im öffentlichen Dienst liegen immerhin zwischen acht und zehn Prozent mehr Lohn. Das klingt auf den ersten Blick hoch, dürfte im Ergebnis jedoch nicht mal die Preissteigerungen ausgleichen. Denn Forderungen sind bekanntlich noch keine Abschlüsse, zu ihrer Durchsetzung bedarf es kämpferischer Aktionen bis hin zu Streiks.

Doch bisher hat es noch keine gewerkschaftlichen Demonstrationen gegeben – anders als in Nachbarländern wie Großbritannien oder Österreich. Der ÖGB organisierte schon Mitte September landesweite Proteste gegen Energiekrise und Teuerung, zudem hat der österreichische Dachverband einen eigenen Vorschlag zur Übergewinnsteuer entwickelt. Der britische Aufruf “Don’t pay UK“ ermuntert Millionen Gas­kun­d:in­nen dazu, das Bezahlen ihrer Energierechnung zu verweigern. Unterstützt wird die breit angelegte Kampagne wesentlich vom Trade Union Congress TUC, dem Pendant zum DGB auf der Insel.

Das Verhältnis der (formal überparteilichen) deutschen Gewerkschaften zur Bundesregierung war historisch betrachtet stets ambivalent. Unter CDU-geführten Kabinetten hörte man auf den Kundgebungen zum Tag der Arbeit am 1. Mai häufig verbalradikale Floskeln wie die Warnung vor einer “Koalition aus Kabinett und Kapital“. Harmonischer ging es zu, wenn die Sozialdemokratie den Kanzler stellte, doch selbst dann scheuten die DGB-Organisationen keineswegs jede Konfrontation.

1974 zum Beispiel trug ein harter Streik im öffentlichen Dienst mit stark eingeschränktem Nahverkehr und überquellenden Mülltonnen auf den Straßen maßgeblich zum bald folgenden Sturz von Willy Brandt bei. Heinz Kluncker, der mächtige Vorsitzende der Gewerkschaft ÖTV, einer Vorläuferorganisation von ver.di, setzte im damaligen Arbeitskampf eine zweistellige Tariferhöhung durch – nach dem Ölpreisschock bestand wie heute die Gefahr einer beschleunigten Inflation. Und auch später, als Rot-Grün unter SPD-Regierungschef Gerhard Schröder Mitte der Nuller Jahre die Hartz-Gesetze durchsetzen wollte, mobilisierten die Arbeitnehmerorganisationen mit Massendemonstrationen gegen das Vorhaben.

Sozialpartnerschaftliche Kungelei

Derzeit dominiert sozialpartnerschaftliche Kungelei, höflicher ausgedrückt: mitwirkende Zusammenarbeit in einer “Konzertierten Aktion“ – so heißt der Pakt zwischen Regierung, Unternehmern und Gewerkschaften in Anlehnung an frühere Zeiten.

Die Arbeitnehmerorganisationen im DGB bilden allerdings keinen einheitlichen Block. Ver.di-Chef Frank Wernecke, wie sein IG BCE-Kollege Michael Vassiliadis Mitglied der Gaspreis-Kommission, hält die jetzt präsentierte Regelung für “nicht ausreichend sozial ausbalanciert“. Die stärker links ausgerichtete Dienstleistungsgewerkschaft hat sich mit dem Paritätischen Wohlfahrtsverband, dem BUND, Campact, Attac und der Initiative Finanzwende zusammengetan.

Gemeinsame Demonstrationen sind für das kommende Wochenende angekündigt, doch noch bleiben Aktionen im Bündnis mit anderen emanzipatorischen Strömungen die Ausnahme. Der Unmut in der Bevölkerung aber ist offensichtlich, die Bereitschaft zum Sozialprotest gerade in Ostdeutschland groß. Die so entstandene Mobilisierungslücke füllen rechte Bewegungen – in denen sich in der Tat auch Feinde der Demokratie tummeln.

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6 Kommentare

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  • Die Gewerkschaften haben an Bedeutung eingebüßt. Die alten Milieus gibt es nicht mehr, die Mitgliederzahlen haben sich in den letzten 30 Jahren halbiert. Vor 15 Jahren saß der DGB-Vorsitzende Michael Sommer in jeder Talkshow. Frau Fahimi ist heutzutage wenig zu sehen, kaum einer kennt sie. Vielleicht können die Gewerkschaften froh sein, dass die SPD ihnen eine Bedeutung schenkt, die sie aus sich heraus gar nicht mehr haben. Und, ja, die Straße wurde längst von anderen Bewegungen gekapert, Proteste sind plötzlich unfein geworden, sie riechen nach Räucherstäbchen und Bierkeller, wer trotzdem rausgeht, wird als Schwurbler verlacht oder als rechtsoffen gebrandmarkt. Früher war alles einfacher, möchte man seufzen.

    • 0G
      06455 (Profil gelöscht)
      @Jochen Laun:

      Da hilft kein seufzen.



      Trotzdem rausgehen und die Einordung mit Fassung tragen.



      Frische Luft hilft auch gegen Überkeit anggesichts der Kungelei und politischen Lage.

  • Wir brauchen dringend neue Brennstäbe für unsere AKWs. Wir müssen raus aus der Atomkraft. Aber ein Exit 2024 tut es auch. Die Energiepreise müssen runter! Energiekosten sind DIE soziale Frage unseres Jahrzehnts.

  • Genau deswegen sind viele meiner Kollegen und Kolleginnen, genau wie ich ausgetreten. Leider bekamen sie in der Zeit der Pandemie kaum Hilfe von Seiten der Gewerkschaftsfunktionäre. Im Gegenteil, sie wurden für Kritik an der Coronapolitik offen angegriffen, herabgewürdigt und in einigen Fällen diskriminiert.



    Mit der in der Satzung garantierte Unabhängigkeit und Loyalität gegenüber der Regierung und ihren Mitgliedern wird es nicht so genau genau genommen. Ver.di als DGB G. verhält sich durch ihre etablierten Funktionäre genau so linear, wie es die große Koalition und später die Ampel von ihr erwartet. Aber einen FDGB nach DDR-Vorbild brauchen wir nicht, sondern eine Gewerkschaft, welche sich in erster für Linie wieder für Arbeitnehmerrechte einsetzt und nicht nur jetzt, weil die SPD an der Regierung beteiligt ist, ihre Mitglieder versucht zu erziehen und politisch auf Linie zu bringen. Schade, um viele Jahre des gemeinsamen Kampfes für Freiheit, Verbesserung der Arbeit- und Einkommensbedingungen. Mit mir leider nicht mehr, ich bin raus.

  • Bei den Tarifverhandlungen von ver.di für den TV-L (Angestellte der Länder) hatte ich auch zunehmend das Gefühl, dass es bei den Verhandlungen mehr um das persönliche Standing der ver.di Leute zu ihren zukünftigen Vorgesetzten und Kolleg:innen geht als um die lästigen Angestellten im TV-L.



    Daraufhin bin ich enttäuscht ausgetreten und ärgere mich alle 2 Jahre über den Alleinvertretungsanspruch von ver.di.



    Kann sich da nicht mal eine solidarische und überparteiliche Gewerkschaft als Verhandlerin im öffentlichen Dienst anbieten? Ich wäre dabei.

  • Es wird den Gewerkschaften auf die Füße fallen bzw. die Austritte werden zunehmen, anstatt abnehmen.