Die ukrainische Literaturszene: Das Wort für Krieg
Zwischen Verzweiflung und Kampfeswillen: Die ukrainische Literaturszene sucht nach einer Sprache, um Unbeschreibliches auszudrücken.
Am 16. März 2022 um 20.16 Uhr notiert Arkadi Babtschenko in seinem Tagebuch: „Krankenhaus Mariupol. Das muss die ganze Welt sehen. Das muss die ganze Welt sehen.“ Etwa drei Wochen später, am 2. April, 12.55 Uhr, findet der russische Autor und Journalist für den Tod des berühmten ukrainischen Fotografen Maks Lewin knappe, präzise Worte: „Maksym Lewin ist gefunden worden. Tot. Splitterwunden am Kopf. Schweinehunde. Ich hasse sie.“ Es ist eine Stakkato-Sprache, fast eine Stammelsprache, in der er das das Grauen in Worte fasst. Babtschenko kennt den Krieg, er kämpfte selbst als russischer Soldat im Ersten und Zweiten Tschetschenienkrieg. Heute lebt er als Kremlkritiker im Exil und verachtet das imperiale Russland.
Das notatartige Erzählen ist nach dem 24. Februar eine typische Form des Erzählens geworden. Für den wohl berühmtesten ukrainischen Autor, Serhij Zhadan, ist die Zeit für das literarische Schreiben über den Krieg bis heute noch nicht gekommen. Bereits Anfang April postet er den Appell: „Lasst uns daher für den Sieg arbeiten, die Streitkräfte der Ukraine unterstützen. Alles andere später. Jetzt nichts als Widerstand, Kampf und gegenseitige Unterstützung. Es gibt keine Worte. Einfach keine.“ Zhadan unterstützt die Frontsoldaten selbst mit Hilfslieferungen. Er führt Kriegstagebuch auf Facebook, als Kriegspartei.
Empfohlener externer Inhalt
taz talk Krieg und Frieden
Auch die berühmte ukrainische Autorin Oksana Sabuschko hat einen langen Essay geschrieben, der am 23. Februar einsetzt. An dem Tag wollte sie eigentlich nur für eine zweitägige Lesereise nach Polen fliegen – dann kamen die Bomben, Sabuschko musste im Ausland bleiben. Für sie ist es die Literatur – und nur die Literatur –, die in der Lage ist, die Zäsur zu beschreiben, die die Zeitenwende für die kollektive Psyche bedeutet. „Für die Veränderungen im Massenbewusstsein, die am schwierigsten nachzuverfolgen sind, findet die Soziologie nicht das richtige Instrumentarium“, schreibt sie. Auch die Politikwissenschaft sei dazu nicht geeignet. „So bleibt nur die Literatur als einzig geeignetes Werkzeug zu ihrer Fixierung.“
Das Suchen nach einer Sprache für den Terror
Der russische Angriffskrieg dominiert – neben Klimathemen – den politischen Bücherherbst, es erscheinen dieser Tage eine ganze Reihe von Tagebüchern und Journalveröffentlichungen von ukrainischen Autor:innen oder russischen Dissident:innen. Die gesammelten Texte von Arkadi Babtschenko sind in seinem Tagebuch „Im Rausch. Russlands Krieg“ (das schon 2014 einsetzt) nachzulesen, Serhij Zhadans Facebook-Posts und -Fotos erscheinen dieser Tage gedruckt („Der Himmel über Charkiw“), und Oksana Sabuschkos historischer Essay wurde kürzlich unter dem Titel „Die letzte Buchtour“ veröffentlicht.
Sie alle sind prominente Stimmen. Babtschenko war Journalist der Nowaja Gaseta und hat mehrere Bücher über das Kriegsgeschehen und -erleben geschrieben. Der einstige Frontsoldat ging 2017 ins Exil, zunächst nach Prag, dann nach Kiew, wo er auch heute noch lebt. Oksana Sabuschko ist mit dem Buch „Feldstudien über ukrainischen Sex“ (2007) bekannt geworden und hat sich bereits in vorherigen Büchern mit dem ukrainisch-russischen Verhältnis auseinandergesetzt. Serhij Zhadan, diesjähriger Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, hat als Autor in Deutschland schon lange viele Fans, schrieb Bücher wie „Depeche Mode“ (2007) und „Hymne der demokratischen Jugend“ (2011).
Arkadi Babtschenko: „Im Rausch. Russlands Krieg“. Aus dem Russischen von Olaf Kühl. Rowohlt,
Hamburg 2022,
318 Seiten,
22 Euro
Das anfängliche Suchen nach einer Sprache für den russischen Terror verbindet diese drei Bücher, andere Parallelen sind die Wut und die Polemik. Dennoch finden alle drei zu einer sehr unterschiedlichen Erzählweise: Babtschenko flucht und tobt in seinen Notizen, klagt das russische Regime an. Sabuschko erklärt, wie der Ukraine ihre Identität, ihre Sprache, ihre Kultur abgesprochen wurde, Serhij Zhadan führt fast eine Art Aktivistentagebuch.
Geschichtlich lernt man am meisten bei Sabuschko, die Autorin erzählt von den Kontinuitäten zwischen dem Stalin- und dem Putinstaat, sie zeigt auf, wie die heutige russische Taktik eins zu eins in KGB-Handbüchern aus den 1960er Jahren nachzulesen ist. Über die russische Gesellschaft schreibt sie, dass „Russland nie einen ‚dritten Stand‘ freier Bürger hatte, während die Ukraine die Selbstverwaltung ihrer Städte bis ins 19. Jahrhundert verteidigte, selbst als sie Teil des Russischen Reiches war“. In der postsowjetischen Ukraine habe sich eine Zivilgesellschaft gebildet, die sich jetzt eben als so widerständig und widerstandsfähig erweise.
Oksana Sabuschko: „Die letzte Buchtour. Essay“. Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvi. Droschl Verlag,
Graz 2022,
176 Seiten,
22 Euro
Über die Kultur und das Selbstbild Russlands spottet Sabuschko: Zu keinem Zeitpunkt habe es sich dabei um eine eigene Kultur gehandelt, die Identitätsformel zu Zeiten des Russischen Reiches sei „Orthodoxie, Autokratie, Volk“ gewesen (im Gegensatz zum französischen „liberté, egalité, fraternité“). Interessant auch Anekdoten am Rand wie jene, dass Sabuschko 2014 bei einer Veranstaltung in Berlin Putin mit Hitler verglich und ihr daraufhin das Mikrofon abgedreht wurde.
Zynisch, vulgär, zornerfüllt
Wo Sabuschko spottet, auch über den Westen, da ist Babtschenko eher zynisch, vulgär, zornerfüllt. Der Titel „Im Rausch“ ergibt auch deshalb Sinn, weil sich der Autor zum Teil rauschhaft in den Wahnsinn schreibt, zu den Ereignissen von Butscha hält er fest: „Gerüchte, ich sei unter den Toten von Butscha. Wie soll man über so ein Gemetzel keine Witze machen. A-ha-ha, ein halbes Tausend Menschen an den Brunnen zusammengeschossen, köstlich! Lasst uns mal ordentlich ablachen.“
Serhij Zhadan: „Himmel über Charkiw. Nachrichten vom Überleben im Krieg“. Aus dem Ukrainischen von Juri Durkot und Sabine Stöhr. Suhrkamp,
Berlin 2022,
239 Seiten,
20 Euro
Es gibt mehrere dieser Passagen, an denen deutlich wird, dass für ihn jede berichtende, nüchterne Sprache versagen muss im Angesicht der Barbarei. Er hält die heutige russische Gesellschaft für rückständig, kaum reformierbar, größtenteils gehirngewaschen: „Ein ganzes Land voll aggressiver, grausamer, zurückgebliebener Minderjähriger. Ein Land, in dem die Penner die herrschende Klasse sind. Wladi hat’s geschafft. Das muss man sagen.“ Bei ihm geht das bis hin zu Vernichtungsfantasien gegenüber Russland, manchmal schießt er über das Ziel hinaus. Am eindrücklichsten ist es vielleicht, wenn er aus sehr persönlicher Perspektive erzählt, etwa aus der Sicht des jungen Soldaten, der Grosny gesehen hat.
Das Verhältnis von Sprache und Krieg bestimmt diese Texte. Serhij Zhadan erklärt in dem Epilog seines Buch sehr treffend, warum das literarische Erzählen für ihn (noch) nicht möglich ist: „Schon nach den ersten Bombardierungen von Wohngebieten erscheinen dir Metaphern zweifelhaft. Genauso ethisch zweifelhaft erscheint dir die Literarisierung der Wirklichkeit, die Verwandlung von Realität in Literatur, die Suche nach Bildern und Vergleichen, die Verwendung von Blut und Fleisch als literarischem Material.“
Serhii Plokhy: „Das Tor Europas. Die Geschichte der Ukraine“. Aus dem Englischen von Thomas Wollermann, Bernhard Jendricke, Stephan Pauli, Stephan Kleiner, Anselm Bühling. Hoffmann und Campe,
Hamburg 2022,
560 Seiten, 30 Euro
Subjektive Skizzen des Krieges
All die Texte, die gerade zum Glück auch in gedruckter Form erscheinen, könnten nebeneinandergelegt ein Werk wie Walter Kempowskis „Echolot“ ergeben. Sie erzählen oft subjektiv, unmittelbar, ungefiltert. Es sind Skizzen des Krieges. Das Bild komplettiert sich, wenn man historische und wissenschaftliche Bücher parallel liest, von dem in Harvard lehrenden Ukrainekenner Serhii Plokhy ist kürzlich etwa „Das Tor Europas. Die Geschichte der Ukraine“ neu erschienen, während er in „Die Frontlinie“ erklärt, warum es fast zwangsläufig so kommen musste, dass die Ukraine so tragisch ins Zentrum des Weltgeschehens rückt.
Serhii Plokhy: „Die Frontlinie. Warum die Ukraine zum Schauplatz eines neuen Ost-West-Konflikts wurde“. Aus dem Englischen von Thorsten Schmidt, Gregor Hens, Ulrike Bischoff, Stephan Kleiner, Stephan Gebauer. Rowohlt,
Hamburg 2022,
544 Seiten, 30 Euro
Nicht weniger als der Erhalt der Zivilisation steht auf dem Spiel. Wie schreibt Oksana Sabuschko so richtig? „Wenn wir uns jetzt, nach acht Jahren Schwebezustand zwischen den Epochen, der inzwischen globale Maßstäbe annimmt, nicht als ganze Menschheit, als Spezies auf dieses andere Niveau erheben, sondern uns nach unten ziehen lassen, in den von Russland angebotenen vormodernen Absolutismus mit seiner postmodernen technologischen Entourage, die die schlimmsten Hollywood-Dystopien Wirklichkeit werden lassen, ist es vorbei.“ Mit diesen Sätzen dürfte sie den Welt- und Zeitgeist unserer Tage gut erfasst haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
Trumps Personalentscheidungen
Kabinett ohne Erwachsene
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“