: Echt, nicht schön
Politisch kompromisslos erzählt Luka Lenzins Comic „Nadel und Folie“ vom Alltag der akzeptierenden Drogenarbeit: fiktional und wahrhaftig, mit Mitgefühl statt Mitleid, und mit zärtlichem Humor
Von Benno Schirrmeister
Längst gilt ja auch für Comics, dass es viel zu viele gibt. Nicht mal die guten kannst du alle lesen, und dann vertrödelst du auch noch immer wieder Zeit mit den nervig vielen überflüssigen, die ganz nett sein mögen, die aber letztlich nichts zu erzählen haben, es aber doch tun, weil, von irgendwas musst du ja leben.
Das krasseste Gegenteil davon ist Luka Lenzins gerade bei Reprodukt erschienener Band „Nadel und Folie“: Er ist notwendig und schonungslos. Und ja doch, er hat auch einen klugen Humor. Für den ist die Zwillingsformel des Titels ein gutes Beispiel: Was fürs Schneiderhandwerk Nadel und Faden, ist das Paar aus Spritzenkanüle – also Nadel – und Alufolie für den Drogenkonsum. Um den geht es hier. Das Werk ist ein fulminanter Appell für seine Legalisierung und Normalisierung.
Lenzin findet für das, was in diesem Zusammenhang erzählt und bewegt werden muss, – beim Hamburger Comicfestival, das endlich wieder Vor-Corona-Umfang hat, kann man sich auch in einer Ausstellung davon überzeugen – den richtigen Rhythmus, die richtigen Worte und einen Strich, der entschieden roher ist, als im Post-Punk-Epos „rpm“. Das, 2012 veröffentlicht, war zurecht von der Kritik gefeiert worden und auch durchaus ein Verkaufserfolg: Seine Brüche, sein Fragmentieren dienten einem ästhetischen Konzept. Das war selbst durchaus Thema des Buchs – und hatte deshalb, gerundet und geglättet, eine fast verräterisch schöne Linienführung erlaubt.
Damit ist jetzt Schluss: Durch langjähriges Jobben als Hilfskraft kennt Lenzin, auch Mitglied der Hamburger Bands Honeyheads (bis 2015), Twisk und Plastiq, den Alltag einer Hamburger Drogenberatung. In „Nadel und Folie“ gelingt, dessen Aspekte in einem fiktiven Arbeitstag der Hilfskraft Luka, aka Kosmos, zusammenzufassen und in Bilder und Dialoge zu übersetzen.
In denen bleiben Verletzungen und Verwerfungen aller Beteiligten an jedem Punkt spürbar: Das Buch ist gesättigt von Wirklichkeit, mehr als viele journalistische Reportagen. Und es ist humaner, gerade weil die Figuren hier teils Schnäbel, teils Fuchsköpfe tragen oder auch die Physiognomie irgendeines anderen Haus-, Feld- oder Waldtiers aufweisen. Dabei wird klug jeder Entenhausen-Schematismus unterlaufen: Noch nicht mal alle Polizisten sind Schweine.
Sie können auch ganz normale Hunde sein oder schräge Vögel, wie du und ich. Statt homogener Blöcke schafft Lenzin also eine Vielheit, vielleicht eine Multitude im Sinne Antonio Negris. Und gerade deshalb entfalten auch die essayistischen Passagen des Buchs erhebliche politische Dringlichkeit.
Oft, nicht immer, sind sie durch schwarze Hintergründe optisch von der Erzählung abgesetzt, gehen dann aber nach ein paar Seiten zwanglos und fast unmerklich wieder in sie über, geraten zur Stimme aus dem Off, die noch vom kolonialen Opiumkrieg des 19. Jahrhunderts erzählt, während das zugehörige Panel, statt den historischen Abriss weiter zu illustrieren, eine unangenehme Hamburger Polizeistreife vor einer Sparkassen-Filiale cruisen lässt.
Diese sachkundlichen Passagen sind als innere Monologe des narrativen Ich gestaltet. Neben der Kulturgeschichte der Opiate und der Prohibition reflektieren sie beispielsweise soziologisch die Wirkung der Repression und philosophisch die Frage nach der Bewertung von Drogenabhängigkeit als einer Krankheit – also warum diese Anerkennung geboten, und warum auch sie nicht unproblematisch ist.
„Krankheit ist ein Seinszustand, der Auskunft gibt über die Setzung von Gesundheit als normal und von Normen als gesund“, heißt es, (durchgehend in aufmüpfig unterschiedlichen Großbuchstaben gelettert) an einer jener Stellen, an denen Luka Lenzin einlädt, eigene Gewissheiten zu erschüttern: Wäre die Kranksprechung am Ende nicht auch nur eine stigmatisierende Kategorisierung, um sich das Problem vom Leib zu halten und die Selbstbestimmung der zu verwaltenden und behandelnden Substanzgebrauchenden zu leugnen?
Schicksal ist auch so ein Begriff, der das tut. Die Geschichten der Leute, denen Luka auf der Arbeit begegnet, würden wahrscheinlich landläufig mit diesem fatalen Begriff belegt, weil sie so hart sind. Sie sind in kurzen Sequenzen in den Beratungsstellenalltag integriert, ungeschönt, in den Worten ihrer Protagonisten etwa des afghanischen Papis, der beim Tischdecken im Aufenthalts- und Essraum von seinem Traum erzählt, für sein „Bejbi“ daheim Geld zu verdienen, „drei Wochen habe ich hier Arbeit“, sagt er.
Dann sieht man, wie er vom Laster, der ihn zuvor zur Baustelle gekarrt hatte, unter Drohungen vertrieben wird, natürlich ohne Lohn. Aber das sind keine Schicksale. Das sind eben Lebenswege, die Menschen sich schaffen, keine vorbestimmten Bahnen, und es sind eben auch Schläge von konkreten Individuen und von menschgemachten Institutionen, die sie erfahren und zu verkraften haben. Was sie vielleicht nicht können, oder vielleicht nur dank Drogen können.
Es sind aber auch Erfolge, die diese Menschen erringen – und die geradezu taumeln lassen, weil man die falsche Gleichung von Unzurechnungsfähigkeit und Substanzkonsum verinnerlicht hat. Die Leistung, dass jemand mit fast 50 Jahren Heroin-Konsum „nie gedrückt, nur inhaliert“ haben will, darf man das denn glauben? Und, noch krasser, eine Crack-Userin als Schwerlastkranfahrerin im Hamburger Hafen? Ja kann denn das zusammengehen? Ist das nicht gefährlich?!
Ja, es gibt Menschen, die ihren Konsum kontrollieren können. Ebenso, wie er sehr oft in elende Hilflosigkeit führt, bei der dann der Verzehr eines simplen Puddings zur unlösbaren Herausforderung wird: Der Kopf knallt in den Napf, dass der Vanilleschmodder hoch aufspritzt, als der eben noch fröhliche Typ am Tresen der Drogenberatungsstelle von einem Moment auf den anderen weggetreten ist. „Aber Sputnik, nicht im Schälchen einschlafen“, entschärft Luka die lächerliche, aber gar nicht so ungefährliche Situation. Man kann eben auch in Flammeri ersticken.
Die Situation steht da für sich. Da ist kein falsches Mitleid, da sind auch keine dramatischen Zuspitzungen, die irgendwelche trivialen Bedürfnisse bedienen, durch ausgetüftelte Spannungsbögen gefesselt zu werden, wie in einem gediegenen realistischen Roman. Der Comic „Nadel und Faden“ ist viel realer als das. Er soll nicht echt wirken. Er wirkt aber, weil er so echt ist.
Luka Lenzin: „Nadel und Folie“, Reprodukt, 166 S., 24 Euro
Ausstellung beim Comicfestival Hamburg, 30. 9. bis 2. 10., OK BYE, Harkortstr. 105
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