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Nach der Wahl in NiedersachsenLob der biederen Normalität

Stefan Reinecke
Kommentar von Stefan Reinecke

Die gesellschaftliche Mitte zeigt sich auch in der Krise stabil – trotz großer AfD-Gewinne in Niedersachsen. Die Problempartei in der Ampel ist die FDP.

Haben schon bessere Wahlabende erlebt: FDP-Mitglieder am Sonntagabend in Hannover Foto: Moritz Frankenberg/dpa

D ie Prognose, dass die bundesdeutsche Demokratie, sowieso ein Geschenk der Alliierten, nur für schönes Wetter taugt, gehört seit Jahrzehnten zum festen Glaubensbekenntnis der deutschen Linken. Nur der Wohlstand habe die Deutschen zivilisiert, so die immer mit einer gewissen Angstlust verbreitete Idee. Gekaufte Demokraten, bestochen mit Bequemlichkeit und nicht aus Überzeugung oder Stolz auf Revolutionen, die hierzulande entweder ganz ausblieben oder auf halber Strecke liegen blieben. Falls sich der schöne Wohlstand mal verflüchtigen sollte, dann werde man schon sehen, was unter der Decke nur schlummerte und sein grässliches Haupt wieder erheben werde.

47 Prozent der BürgerInnen sind derzeit unzufrieden mit der Demokratie. Die AfD hat am Sonntag in Niedersachsen fast 12 Prozent bekommen. Die FDP spielt, wenn man Christian Lindner recht versteht, mit der Überlegung, endgültig Opposition in der Regierung zu werden. Die BürgerInnen würden die FDP ja fälschlicherweise für eine linke Partei halten, daher gelte es, die Rolle der Liberalen in der Ampel zu überdenken – was wohl eine Drohung sein soll. Die Regierung in Berlin wankt, zumindest ein wenig, der rechte Rand wird stark. Götterdämmerung der Demokratie? Ist es nun so weit?

Keineswegs. Denn das AfD-Ergebnis relativiert sich, wenn man die Umstände betrachtet. 60 Prozent der WählerInnen in Niedersachsen fürchten, dass sie ihre Rechnungen nicht bezahlen können. Diese Krise ist tiefer und existenzieller, als es die Finanzkrise 2009 war. Die Ampel hat darauf mit der Gasumlage konfus reagiert – und Ängste nicht gedämpft, sondern verstärkt. Die Panik hat Teile der Mittelschicht erreicht. All das sind perfekte Bedingungen für den rechtsnationalistischen Agitprop, der Friedenssehnsucht, Ängste vor dem sozialen Absturz mit „Deutschland zuerst“-Parolen und xenophoben Affekten verwebt. Dafür sind 12 Prozent dann doch nicht so viel.

Ja, sie sind ein Signal an die Ampel, schneller und klarer die Krise zu dämpfen. Aber mehr als 80 Prozent haben – wenn auch bei niedriger Wahlbeteiligung – die Mitte-Parteien gewählt – SPD, Konservative und Liberale, also jenes Zentrum, das seit Jahrzehnten mit erstaunlicher Kontinuität die deutsche Politik prägt. Niedersachsen hat nicht für die aggressive völkische Retro-Normalität der AfD votiert, sondern für rot-grüne Normalität – zivil und etwas bieder, sachlich und aufregungsarm.

In Italien und Schweden, Frankreich und Polen pflügen Rechtsautoritäre und Postfaschisten die politische Landschaft um und sind erfolgreicher als hierzulande. Das ist kein Grund für Selbstzufriedenheit – aber doch ein Grund, die Rhetorik des linken Alarmismus, der das Ende der Demokratie nahen sieht, mal herunterzupegeln und die „Der Schoß ist fruchtbar noch“-Lyrik einzustellen.

Schlimmer, als weiter zu regieren, wäre für die FDP, Schuld an Neuwahlen im Bund zu sein

Zwei Parteien haben im Vergleich zu 2017 gewonnen – die Grünen und AfD. Die Grünen sind, allerdings weniger als von ihnen erhofft, dabei, in urbanen Zentren mit der SPD auf Augenhöhe zu konkurrieren. Die AfD hat vor allem in schrumpfenden Regionen beim sogenannten alten Mittelstand gewonnen. Die Mitte ist stabil – daneben zeichnet sich eine Polarisierung zwischen grünen, urbanen, liberalen Milieus und kleinstädtischen ProtestwählerInnen ab, die ihren Lebensstil in Gefahr sehen. Der Protest ist rechts, aber begrenzt und vielleicht auch rückholbar. Die Linkspartei spielt bei alldem keine Rolle. 18 Prozent der ArbeiterInnen haben laut Wählerbefragungen AfD gewählt – und nahezu 0 Prozent Linkspartei.

Eine Bastion der elektoralen Stabilität sind die Älteren. In Niedersachsen wählten nur 5 Prozent der über 70-Jährigen AfD. Ältere gehen verlässlicher als Jüngere zur Wahl. Sie sind zudem eine wachsende Klientel; Wahlen sind schon heute gegen sie kaum zu gewinnen. In NRW siegte im Mai die CDU, weil sie bei RentnerInnen punktete. In Niedersachsen votierten 42 Prozent der Älteren für Stephan Weil, der das Sicherheitsversprechen, auf das RentnerInnen viel Wert legen, glaubhaft verkörperte.

Es bedarf keines großen Scharfsinns, um zu erkennen, dass auch künftige Wahlen gewinnt, wer für Sicherheit, soziale Absicherung und einen starken Staat steht. Denn die Krisendichte bleibt. Neben Krieg, Inflation und einer Pleitewelle steht mit der ökologischen Transformation die größte Umwälzung der Ökonomie seit 150 Jahren bevor.

Lindners Kurs passt nicht

Die FDP hat in Sicherheitswahlen wenig Chancen. Sie behauptet nun bockig, Opfer der Ampel zu sein. Das ist naheliegend – aber ein Irrtum. Doch das Problem der Liberalen ist nicht die Ampel, sondern Liz Truss. Die britische Premierministerin hat gerade demonstriert, dass sich neoliberale Ideen in dieser Krise komplett vor der Wirklichkeit blamieren. Wenn schon niedersächsische Bäcker aus Existenzangst auf die Straße gehen, passt Austeritätspolitik, die Lindner vertritt, schlicht nicht.

Rund 40.000 Ex-FDP-WählerInnen sind nicht zur AfD übergelaufen, weil Lindner die Schuldenbremse nicht heldenhaft genug verteidigt hat. 60 Prozent der FDP-WählerInnen in Niedersachsen wollen weniger Unterstützung für die Ukraine und stehen dem Putin-freundlichen AfD-Kurs offenbar näher als der omnipräsenten FDP-Frau Strack-Zimmermann, die deutsche Panzer an die Front liefern will. Die FDP ist unfähig, ihre eigenen Widersprüche zu bearbeiten – und schiebt lieber alles auf SPD und Grüne.

Die Ampel wird trotzdem weiterregieren. Denn schlimmer, als zu regieren, wäre für die FDP, Schuld an Neuwahlen zu sein und der Republik in einer globalen Krise einen monatelangen Wahlkampf zu bescheren. Lindner ist rational genug, um zu begreifen, dass die FDP dies nicht überleben dürfte. Deshalb wird alles weitergehen wie bisher. Die FDP wird sich noch etwas verbissener im Bremserhäuschen verschanzen und eine effektive Krisenbekämpfung verlangsamen. Das ist unschön – aber kein Grund für Untergangsfantasien.

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Stefan Reinecke
Korrespondent Parlamentsbüro
Stefan Reinecke arbeitet im Parlamentsbüro der taz mit den Schwerpunkten SPD und Linkspartei.