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Zeitmanagement als GastwirtAuch Wirte kennen Murphys Gesetz

Gastwirtschafts- und Landwirtschaftsbetriebe haben einiges gemeinsam. Und doch gibt es Unterschiede. Etwa der, dass Tiere keine Bewertungen abgeben.

Pflanzen und Tiere schwingen im Rhythmus der Natur: Milchkuh bei Neukirch im Schwarzwald Foto: Winfried Rothermel/imago

M an darf sich keine Illusionen machen: Wer einen gastronomischen Beruf wählt, sollte sich von einem Konzept wie dem festen Feierabend verabschieden, wie auch von einer irgendwie gearteten x-Stunden-Woche, von so etwas wie Gleitzeit oder Kernarbeitszeit. All diese Arbeitszeitmodelle wurden ursprünglich in der Arbeiter- und Angestelltengesellschaft ersonnen und in der Dienstleistungsgesellschaft weiterentwickelt. Klar: Man kann es als zivilisatorische Errungenschaft ansehen, wenn das Leben zweigeteilt ist zwischen Arbeit und Freizeit, muss es aber nicht.

Mehr als 20 Jahre war Jörn Kabisch Journalist, nun hat er einen Gasthof in Franken gepachtet. Über seine Erfahrungen schreibt er alle vier Wochen an dieser Stelle.

Ich sehe es mehr und mehr so: Gastwirtschaft hat, was den Faktor Zeitmanagement angeht, viel mit Landwirtschaft zu tun. Eine Maschine lässt sich abschalten, ein Computer auch. Aber keine Pflanze auf dem Feld, kein Tier im Stall, und der Gast im Hotel erst recht nicht. Und dafür muss man sie lieben – also Pflanzen, Tiere und Gäste.

Murphys Gesetz, demzufolge alles, was schiefgehen kann, auch schiefgehen wird, lautet beim Wirt: Setzt man sich selbst zum Essen hin, öffnet sich die Gasthaustür. Es ist dieselbe Zwangsläufigkeit wie bei der Zigarette an der Haltestelle. Der Bus kommt, bevor man aufgeraucht hat.

Das war es dann aber auch mit der Regelmäßigkeit. Pflanzen und Tiere schwingen im Rhythmus der Natur, Gäste dagegen in ihrer Individualität, heißt: Es ist die totale Unvorhersagbarkeit. Genau dann, wenn man glaubt, einen Erfahrungswert zu haben, wird er widerlegt.

So versuche ich seit Monaten abzuschätzen, wie viele Brötchen ich fürs Frühstück brauche: Eins pro Gast ist zu wenig, zwei sind immer zu viel. Im Durchschnitt werden 1,6 Brötchen pro Person gegessen. Aber jede Wette: Lege ich genau so viele bereit, bei 18 Gästen 29 Brötchen, sind es am Ende meist eines zu wenig oder sechs zu viel.

Auch die Idee von Check-in-Zeiten ist Gästen kaum nahe zu bringen. Und das ist die nächste Parallele zur Landwirtschaft: Einen Stall muss man ausmisten, ein Hotel auch. Alle Betten zu machen, die Bäder zu putzen geht am schnellsten, wenn das Haus leer ist. Und dauert dann mit der besten Zimmerfrau der Welt ein paar Stunden. Deshalb gibt es feste An- und Abreisezeiten – und massenhaft Gäste, denen das nicht in die Planung passt.

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Was, wenn ein Gast erst um 11 Uhr den Schlüssel abgibt, der nächste aber um 11.30 Uhr ins selbe Zimmer will – unangekündigt und mit der Begründung: „Man will ja noch was haben vom Tag.“ Als ob sein kleiner Weekender im Kofferraum Depressionen bekommen würde. Wenn man als Wirt an dieser Stelle nicht aufpasst, macht sich bemerkbar, dass mein Metier dann doch anders ist als Landwirtschaft. Denn einen wichtigen Unterschied gibt es: Tiere wissen nicht, wie das mit den Bewertungen auf Hotelplattformen geht.

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Jörn Kabisch
Autor
Wirt & Autor für taz und FuturZwei
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