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AKW SaporischschjaRaub eines Atomkraftwerks

Gastkommentar von Heinz Smital

Die Lage im AKW Saporischschja ist heikel. Personal steht unter Stress, die Stromversorgung ist prekär. Was passiert, wenn Russland die Reaktoren übernimmt?

Das AKW Saporischschja Anfang August, Aufnahme des russischen Verteidigungsministeriums Foto: Foto: Uncredited/Russian Defense Ministry Press Service/AP/dpa

N iemand zieht beim Bau von Atomkraftwerken in Betracht, dass sie eines Tages in einem Kriegsgebiet stehen könnten. Ein folgenschwerer Fehler, wie wir in der Ukraine sehen: Saporischschja ist nicht dafür ausgelegt, militärischen Angriffen zu widerstehen. Selbst die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA), eigentlich eine Verfechterin der Atomkraft, warnt vor einer nuklearen Katastrophe im größten AKW Europas. Die Vereinten Nationen fordern aufgrund der außerordentlich sensiblen Lage eine entmilitarisierte Zone im und um das Atomkraftwerk. Leider zeichnet sich derzeit keine Lösung der angespannten Lage ab.

Dabei sind Atomkraftwerke völkerrechtlich besonders geschützt. Nach einem Zusatzprotokoll der Genfer Konvention zum Schutz der Bevölkerung bei bewaffneten Konflikten sollten Bauten, von denen eine besondere Gefahr ausgeht – wie Staudämme oder Atomkraftwerke –, in kriegerische Handlungen nicht einbezogen werden. Doch weder die Genfer Konvention noch die dauernde Anwesenheit von IAEA-Inspekteur:innen kann derzeit den weiteren Beschuss des Atomkraftwerks verhindern. Eine Notstandswarte steht nicht mehr der Reaktorsicherheit zur Verfügung, weil dort Militär einquartiert ist.

Besonders kritisch ist, dass die ukrainische Bedienmannschaft einem kaum vorstellbaren Stress ausgesetzt ist. Früher arbeiteten bis zu 11.000 Menschen in dem großen Kraftwerkskomplex, jetzt seien es noch etwa 1.000 ukrainische Mitarbeiter:innen, wird berichtet. Dieser Schwund stellt ein schwerwiegendes Sicherheitsproblem dar. Die uneingeschränkte Einsatzfähigkeit einer Belegschaft eines Atomkraftwerks ist von entscheidender Bedeutung.

Der erste große Kernschmelzunfall in einem großen Atomkraftwerk, der Unfall von Three Mile Island bei Harrisburg 1979, war eskaliert, weil die Bedienmannschaft den Zustand des Reaktors nicht richtig interpretieren konnte. Erst nach Schichtwechsel wurden die Probleme erkannt und richtige Gegenmaßnahmen eingeleitet. Harrisburg war eine Mahnung: Um die vielen Informationen in einer Schaltwarte, auch einander scheinbar widersprechende, korrekt zu lesen, braucht es ein außerordentlich hohes Maß an Konzentration. Wie soll das bei den Umständen, die in Saporischschja herrschen, gewährleistet sein?

Michael Löwa/Greenpeace
Heinz Smital

ist studierter Kernphysiker und Atomexperte bei Greenpeace Deutschland. Seit 2006 gehört er zum Internationalen Strahlenschutzteam der Organisation. Im Juli untersuchte das Team die Folgen der russischen Besatzung in Tschernobyl.

Ein AKW braucht auch ausgeschaltet Kühlung

Ein weiteres Problem beim Atomkraftwerk Saporischschja sind die zerstörten Anbindungen an das Stromnetz. Ein Atomkraftwerk muss auch im ausgeschalteten Zustand gekühlt werden und braucht dafür sehr viel Strom, der im Normalbetrieb extern eingespeist wird. Während sich die Kernspaltung per Abschalten stoppen lässt, erzeugen die Spaltbruchstücke allein durch den radioaktiven Zerfall die problematische Nachwärme.

Der radioaktive Zerfall lässt sich nicht beeinflussen; man kann nur warten, bis die Leistung abnimmt – und dabei ständig kühlen. Funktioniert die Kühlung nicht ausreichend, erhitzt sich der Kernbrennstoff. Ab 800 Grad Celsius beginnt ein Oxidationsprozess, bei dem Wasserstoff entsteht. Anders ausgedrückt: Bei Stromausfall und mangelnder Kühlung bildet der Reaktor seinen eigenen Sprengstoff, der zu einer kompletten Zerstörung des Reaktors und großen Freisetzungen von Radioaktivität führen kann.

Damit das AKW die russisch besetzte Krim beliefern kann – denn das scheint das Ziel Russlands zu sein – muss es zunächst vom ukrainischen Netz getrennt werden. Dem kann die Ukraine zu Recht nicht zustimmen. Doch diese Gemengelage ist hochgefährlich. Für einen beschränkten Zeitraum kann ein Reaktor im Inselbetrieb laufen und nur Strom für den Eigenbedarf erzeugen.

Das ist aber wegen der sehr geringen Leistung kein stabiler Zustand. Im Fall der Unterbrechung der Stromversorgung stünde noch Notstromdiesel bereit, der zehn Tage lang die Kühlung aufrechterhalten könnte. Einen Präzedenzfall gibt es dafür nicht. Sind die Tanks der Generatoren leer, würden kurzfristig rund 200 Tonnen Diesel für den Betrieb benötigt, die in den Kriegswirren nicht leicht zu besorgen sind.

Es scheint sich hier um den völkerrechtswidrigen Raub eines Atomkraftwerks zu handeln. Das wirft komplizierte Fragen auf. Was ist, wenn Rosatom den Reaktor komplett übernimmt? Wenn die Stromleitungen ans russische Netz angebunden werden? Welche Rolle nimmt dann die IAEA ein, wenn sie sich „neutral“ verhält und sich allein auf die technische Überprüfung konzentriert? Wird der Raub abgesegnet, wenn die Arbeiten technisch korrekt durchgeführt worden sind?

Während man bei Öl, Kohle und Gas Sanktionen verhängt oder zumindest mit erheblicher Anstrengung versucht, die Abhängigkeit zu beenden, wird der Atomsektor von Sanktionen gegen Russland ausgenommen. Man geht sogar neue Abhängigkeiten ein.

Russische AKW-Technik in der EU

Rosatom ist international der größte Konstrukteur von Atomkraftwerken: 34 Reaktor-Neubauprojekte gibt es in 11 Ländern. Alle werden von der IAEA unterstützt, die Beziehungen sind eng. Auch in Europa baut Russland neue Atomreaktoren. Erst am 26. August 2022 hat Ungarn die Baugenehmigung für den Neubau von zwei russischen WWER-1200-Reaktoren in Paks erteilt.

Zum ersten Mal darf dieser Reaktortyp in der Europäischen Union gebaut werden. Das bringt Russland nicht nur viele Milliarden Euro aus Europa, sondern führt auch in eine weitere Energieabhängigkeit, und das auf Jahrzehnte. Ganze 16 Reaktoren in Europa sind von russischen Lieferungen abhängig.

Dabei haben wir es durch die kriegerischen Handlungen von Russland mit einer neuen Bedrohungslage zu tun. Auch Cyber-Angriffe stellen eine Gefahr dar. Bei einer Eskalation des Konflikts könnte jedes Atomkraftwerk ein potenzielles militärisches Angriffsziel sein. Die Schlussfolgerung kann daher nur lauten: Wenn sich Europa im Krieg befindet, sollte Europa keine Atomkraftwerke betreiben.

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3 Kommentare

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  • "Niemand zieht beim Bau von Atomkraftwerken in Betracht, dass sie eines Tages in einem Kriegsgebiet stehen könnten."



    Dieser Satz ist falsch, denn mir war das schon vor ca. 45 Jahren klar.



    Nach der formalen Logik ist eine derartige Aussage falsch, wenn sie einen finden, der das Unangenehme in Betracht zieht. Dieser eine bin ich.

  • Interessant, dass es diesen Zusatzpassus in den Genfer Konventionen gibt. Keine Ahnung, ob da Atomkraftwerke explizit genannt werden, aber gemeint sind gerade solche Anlagen wohl in jedem Fall.

    Zu Friedenszeiten ist mir die Idee eines solchen Szenarios tatsächlich nie in den Sinn gekommen, aber in Kriegszeiten ist es schon ein ziemlich attraktives Ziel.

  • Wer schießt den auf das Atomkraftwerk?



    Und zur Frage der Neutralität der IAEA: natürlich muss sie sich auch um die Sicherheit gestohlener Atomkraftwerke kümmern. Deshalb sind sie ja neutral.



    Das russische Firmen weiterhin Milliardengeschäft e in der EU machen dürfen ist ein absolutes Unding, können doch bestimmt auch andere Firmen das AKW in Ungarn bauen.