Vollautomatische Vogelbeobachtung: Den Piepmatz im Visier

Voller Technik schippert der ehemalige Schlepper „Zoë X“ durch den Hamburger Hafen. Seine Mission: Vögel beobachten und ihr Verhalten zu übermitteln.

Schiff mit Anzeigetafel vor Hafenkränen

Birdwatching zur See: Die „Zoë X“ nimmt Hamburgs fliegende Tierwelt in den Blick Foto: Malte Veh/FIDS

HAMBURG taz | Das Schiff im Hamburger Hafen ist kaum größer als drei Autos und frisch lackiert: glänzend schwarz. Am Bug ist seltsame Technik zu sehen, die man schwer zuordnen kann. Eine Kamera lässt sich immerhin erahnen, in einem Plexiglaskasten vor Wasser geschützt. Hinten am Heck steht eine riesige Tafel, ganz ähnlich den Anzeigen am Flughafen. Und tatsächlich geht es hier an der Elbe auch um Flugverkehr, wenn auch nicht um motorisierten.

Das kleine Forschungsschiff heißt „Zoë X“ und liegt hier wegen der Vögel vor Anker. Und um die geht es dann auch auf der Laufschrift. „Mit gemächlichen Flügelschlag segelt ein Piepmatz gen Altona“, ist etwa einer von rund 4,2 Milliarden möglichen Sprüchen, die man dort lesen kann. Die Sätze sind das Produkt des Kunst- und Forschungsprojektes „FIDS Open Research Lab“ des Fotografen und Künstlers Claudius Schulze.

„Kunst- und Forschungsprojekt“ klingt zunächst ungewöhnlich, aber tatsächlich bewegt sich das Projekt „an der Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft“, wie der gebürtige Münchener sagt. Er gibt eben eine künstlerische Antwort auf die biologische Forschungsfrage: Wie Verhalten sich die Vögel in unserer Umgebung?

Auch die Werkzeug scheinen zunächst eher der wissenschaftlichen Sphäre zu entspringen: Mit der Hilfe von hochauflösenden Kameras und moderner Sensortechnik untersuchen Schulze und sein Team das Verhalten von Zugvögeln im Hamburger Hafen. „Die Ergebnisse der Untersuchungen werden in verständliche Sprache umgewandelt und auf die Anzeigentafel projiziert“, erklärt Schulze.

Wie eine Art Schall- oder Radarmessung

Die „Zoë X“ und ihre Textbotschaften sind das Herz des Projekts, auch wenn es gelegentlich von Fotoausstellungen begleitet wird. Das Schiff ist an verschiedenen Orten im Einsatz und liegt nur vorübergehend hier am Anleger im Veringkanal. Das ehemalige Schleppschiff beherbergt heute einen kleinen Technologiepark: neben den Kameras noch Sensoren, Solaranlagen und die Anzeigetafel.

Die Funktionsweise der Aufnahmetechnik lässt sich in etwa mit einer Schall- oder Radarmessung vergleichen. Durch Laserreflexion nimmt eine Kamera die Oberflächenbeschaffenheit von Vögeln auf, die in ihrem Radar fliegen. Genaugenommen nimmt sie nicht nur Vögel, sondern so ziemlich alles auf, das ihr ins Visier segelt: zum Beispiel auch Drohnen privater Hobbyflieger oder der Hafenüberwachung.

Die Technik auf dem Bug verzeichnet alles mögliche: Flugart und -richtung, variierende Geschwindigkeit, ja sogar die verschiedenen Laute der Tiere. Dabei können die Sensoren sogar Objekte einfangen, die für das menschliche Auge gar nicht erst sichtbar sind, bis in die Höhe von etwa 200 Meter über dem Schiff.

Die gesammelten Informationen werden dann ausgewertet und schließlich in Computersprache umgewandelt. „Komplizierter Programmierkram“, meint Schulze nur, die er vor allem dem IT- und Softwareentwickler Jonathan Kossick verdankt.

Fliehende Fischbrötchen

Sieht man also am Himmel eine diebische Möwe mit einem soeben erbeuteten Fischbrötchen im Maul über der „Zoë X“ fliegen, ist es ziemlich wahrscheinlich, dass die Anzeigetafel kurze Zeit später mehr Auskunft über diesen Räuber geben kann. Wohin wird die Beute verschleppt? Wie schnell flieht der Dieb? Wie viele Flügelschläge pro Minute braucht die Möwe mit ihrer extra schweren Fracht?

Nur werden diese Daten allerdings nicht einfach so ausgegeben. Kossicks Programm interpretiert die verschiedenen Eigenschaften auch und ordnet sie bestimmten Attributen zu. Wenn also eine kleine Kohlmeise verhältnismäßig langsam über das Schiff fliegt, könnte sich der Spruch etwa so lesen: „Mit gemächlichem Flügelschlag gleitet ein Piepmatz über Wilhelmsburg“. Wenn ein Vogel etwas schneller fliegt, könnte der Spruch auch wie folgt beginnen: „hektisch segelt ein Vogel …“ – so will Schulze die Be­su­che­r*in­nen für das unterschiedliche Verhalten der Tiere sensibilisieren.

Der Hamburger Hafen ist Sinnbild und extremer Ausdruck der Veränderung natürlicher Lebensräume durch Technologie

Das Schiff bleibt nicht durchgehend am Ufer. Bei typischem Hamburger Schmuddelwetter fahren wir auf dem alten Schlepper kreuz und quer durch den Hafen. Seinen Bootsführerschein hat Schulze übrigens nicht für diese Arbeit gemacht, sondern früher mal für ein Hausbootprojekt. Zwischen riesigen Containerschiffen und idyllischen Hausbootlandschaften erzählt Schulze euphorisch von den Hintergründen seines Projektes und von früheren künstlerischen Aktionen.

„Ich denke, mit die größten Krisen unserer Generation sind die Klimakrise und das Artensterben“, sagt er, „ausgelöst durch menschengemachte Technologie“. Darum habe er seine künstlerische Arbeit den Auswirkungen dieser Krisen und ihrer Dokumentation gewidmet. Mit technischen Mitteln will er besseres Verständnis für die oft problematische Rolle des Menschen in der Natur schaffen.

In vorherigen Projekten hat der 38-Jährige unter anderem durch Landschaftsfotografie die Veränderungen der Natur eingefangen und in Ausstellungen dargestellt. Der Hamburger Hafen sei für ihn ein Sinnbild und extremer Ausdruck der Veränderung natürlicher Lebensräume durch unsere Technologie. Tatsächlich wirkt es schon auf den ersten Blick paradox, wie die Form des Gewässers – die Skyline des Hafens – von riesigen Kränen, mächtigen Gebäuden, kleinen oder größeren Werften und Containerschiffen gezeichnet wird.

Zeitgleich sieht man vom Wasser aus längere Grünstreifen und wunderschöne Natur. Gerade diese Kombination aus Natur und urbanem Raum erkläre die Artenvielfalt von Vögeln in der Hafenregion, sagt Schulze. Und das könne auch verallgemeinert werden: „In städtischen Regionen gibt es heute eine viel größere Artenvielfalt als auf dem Land“, sagt er.

Landschaft von Menschenhand

Man könne zwar meinen, die fortschreitende Urbanisierung sorge vor allem für Verschmutzung durch Licht, Lärm und städtischen Müll – aber durch die vielen verschiedenen Nischen, Verstecke, Bunker oder Parkanlagen „bieten Städte heute einen vielseitigen Lebensraum für alle möglichen Tierarten“, so Schulze.

Aber so gut das auch klingen mag: Die Stadt ist gleichzeitig ein hartes Pflaster für alle Tiere und ganz besonders für fliegende. Jährlich verenden über 100 Millionen Tiere, „weil sie gegen Fensterscheiben fliegen“, wie der deutsche Naturschutzbund (Nabu) mitteilt. Die Lichtverschmutzung im Hafen sei auch eine „potenzielle Gefahrenquelle für wandernde Zugvögel“, so Schulze.

Im Führerraum des Schiffes steht ein Konservenglas mit hochprozentigem Alkohol, in ihm eingelegt eine kleine Meise mit gelbem Kehlkopf. „Gut erhalten wie dieser“ seien viele verendete Vögel, sagt der Kapitän. Man sehe ihnen kaum an, gestorben zu sein. Und das alles nur, weil sie gegen Scheiben fliegen oder sich in ein Gebäude verirren, aus dem sie nicht mehr herausfinden.

Claudius Schulze will mit seinem Projekt die Öffentlichkeit ansprechen und „zu einem besseren Verständnis über die Rolle des Menschen in der Natur“ beitragen. Und das gehe „vielleicht am besten durch Technologie“, vermutet er. Obwohl es doch vor allem um die negativen Folgen des technischen Fortschritts geht. Mit FIDS habe er ein System erfunden, mit dem sich Vögel im Hamburger Hafen automatisch überwachen lassen – das neben nackten Daten aber auch in für Menschen nachvollziehbaren und nachfühlbaren Begriffen über ihr Wohlbefinden spricht.

Aktuell liegt das Schiff noch bis Mitte Oktober in Hamburg. Danach geht es aller Wahrscheinlichkeit, auf hoffentlich gemächlichem Wellengang gen Mannheim. Eine der begleitenden Fotoausstellungen ist wieder ab dem 8. Oktober beim „Climate Art Fest“ in Hamburg zu sehen.

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Dieser Artikel stammt aus dem stadtland-Teil der taz am Wochenende, der maßgeblich von den Lokalredaktionen der taz in Berlin, Hamburg und Bremen verantwortet wird.

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