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„Fotografiezeigt uns den Horrorauf“

Nanna Heitmann arbeitet für die berühmte Fotoagentur Magnum – und ist eine der wenigen westlichen Fotojournalistinnen, die noch in Moskau sind. Die Arbeit dort wird ihr sehr erschwert. Trotzdem will sie bleiben

Bei der Arbeit: Nanna Heitmann fotografiert eine Geisterstadt in der russischen Republik Dagestan Foto: Milana Magomedova

Gespräch Thomas Winkler

taz am wochenende: Frau Heitmann, als Fotografin in Moskau zeigen Sie ein Bild von Russland, das mittlerweile kaum noch in westlichen Medien vorkommt – auch, weil es kaum noch ausländische Journalisten dort gibt.

Nanna Heitmann: Ja, es ist sehr schwierig gerade. Als schreibender Journalist kann man vielleicht noch arbeiten, da kann man telefonieren und anonym veröffentlichen. Aber als Fotografin braucht man Zugang, da ist man auffälliger – und wird ständig von seltsamen Menschen verfolgt und selbst fotografiert. Die Menschen wollen auch nichts mehr mit einem zu tun haben, sie sind eingeschüchtert. Es ist fast unmöglich zu wissen, was sie wirklich denken. Auch wenn die Menschen nichts gegen die Regierung sagen, haben sie Angst, mit westlichen Journalisten auch nur zu sprechen, denn im Fernsehen wird ihnen eingetrichtert, dass wir Spione und Feinde sind.

Sie werden als westliche Journalistin wahrgenommen, nicht als Russin?

Ja, ich spreche zwar fließend Russisch, aber ich habe ja auch einen Akzent. Und ich arbeite nun mal für westliche Medien.

Wohin können Sie noch reisen?

So pauschal kann man das nicht sagen. Man muss es halt probieren, und manchmal klappt es. Man muss viel Zeit investieren, um Vertrauen zu gewinnen und Zutritt zu bekommen. Ich war gerade in Dagestan und habe dort die Beerdigungen von russischen Soldaten, die in der Ukraine gefallen sind, fotografiert. Dagestan ist ein muslimisches Land, sehr konservativ und vollkommen anders als der Rest von Russland. Dort war es für mich faszinierend zu sehen, wie Putin es schafft, ein Land mit so vielen Kulturen, Religionen und Sprachen als Einheit zusammenzuhalten. Gerade in den ärmsten, oft auch den abgelegenen Teilen stehen die Menschen geschlossen hinter Putin – im Gegensatz zu Moskau, da gibt es mehr Opposition. Vor allem die Eltern beteuerten, ihre Söhne seien für eine heldenhafte Sache gestorben. Sie sprechen, wie auch der Kreml, von ukrainischem Faschismus und westlicher Dekadenz – in gewissem Maße vielleicht authentisch, denn Dagestan ist eine tief religiöse und konservative Gesellschaft. Viele sind der Überzeugung, dass Russland heute, wie vor achtzig Jahren, gegen Nazis kämpft, darunter auch gegen Deutschland, das Waffen in die Ukraine liefert.

Und obwohl Ihre Arbeit immer schwerer wird, wollen Sie bleiben?

Ich finde es gerade unglaublich spannend und wichtig, hier weiter zu arbeiten. In der Ukraine sind gerade Massen an Medien unterwegs, hier in Russland sind nur noch wenige geblieben. Die russische Seite zu zeigen, und was hier los ist, das finde ich wichtig. Auch hier trauern ja Menschen um ihre gefallenen Söhne und Brüder. Was sie denken, finde ich wichtig zu zeigen.

Nanna Heitmann

Die Person

Nanna Heitmann, 1996 in Ulm geboren, wuchs zweisprachig auf, ihre Mutter stammt aus Russland. Heitmann studierte im sibirischen Tomsk.

Die Fotografin

Heitmann ist eine der jüngsten Fotograf*innen der berühmten Agentur Magnum, die in diesem Jahr ihren 75. Geburtstag feiert. Seit einigen Jahren lebt sie in Moskau. Ihre Fotos erscheinen in Publikationen wie National Geographic, Le Monde und New York Times. Bei der Berlin Photo Week (2. bis 9. September) wird in diesem Jahr das Magnum-Jubiläum gewürdigt. Auch Nanna Heitmann wird mit ihrer Arbeit „Russian Propaganda – War is Peace“ vertreten sein.

Wie erklären Sie sich, dass sich auf russischer Seite nicht mehr Widerstand regt?

Ich glaube, das erklärt sich vor allem mit der Psyche des „Homo Sovieticus“, wie ihn Alexander Sinowjew beschrieb. Der Zerfall der Sowjetunion war quasi eine Revolution, die von selbst kam, für die der Bürger nicht kämpfen musste. So blieben auch alte Gewohnheiten: Anpassung anstatt Widerstand. Der sowjetische Bürger baute sich seine kleine private Welt, in der er nach Möglichkeit nichts mit der Politik zu tun hat, weil er der Überzeugung ist, dass er sowieso nichts ändern kann und nur ein Dummkopf sich in Politik einmische. Die Opposition hat auch den Eindruck, dass sie sowieso viel zu wenige sind, um etwas bewegen zu können. Wie schon gesagt: Es ist fast unmöglich zu wissen, was die Menschen wirklich denken. Wer kritisch berichtet, sich offen gegen den Kreml stellt, dem drohen bis zu fünfzehn Jahre Haft. Wer Familie hat oder seine Arbeit nicht verlieren möchte, denkt dreimal darüber nach, ob es sich wirklich lohnt, auf die Straße zu gehen, nur um nach zwei Minuten verhaftet und weggesperrt zu werden. Viele kritisieren auch die Doppelmoral Europas. Warum vom kleinen Bürger solche aufopfernden Taten gefordert werden, während Europas Politiker, die viel mehr Einfluss haben – insbesondere Deutschland –, jahrelang Putins Regime unterstützt haben und nach wie vor Milliarden nach Russland pumpen im Austausch gegen das günstige russische Gas.

Sie reisen bis heute unglaublich viel. Finden Sie es einfacher, die Fremde zu fotografieren – oder das, was Sie kennen?

Auf jeden Fall das, was ich kenne. Deshalb arbeite ich gern in Russland, weil ich die Sprache spreche und die Kultur, weil ich die Geschichte kenne. Ich habe vergangenen Herbst im Irak und im Kongo gearbeitet. Im Kongo konnte ich mich noch mit Französisch verständigen, aber im Irak war ich auf meinen Fixer angewiesen, der für mich übersetzte. Das fand ich schrecklich, weil einem dadurch ganz viel entgeht, was einem die Leute mitteilen können, die kleinen Gespräche im Bus. Man muss sich auskennen, wenn man Geschichten und Themen finden will.

Wann waren Sie eigentlich zuletzt in den New Yorker Büros Ihrer Agentur Magnum?

In New York war ich tatsächlich noch nie. Ich wollte dieses Jahr eigentlich zu der großen Versammlung, bei der alle Magnum-Fotografen und -Fotografinnen zusammenkommen, aber es ist momentan leider nicht so einfach, Flüge aus Russland in die USA zu bekommen. Die kosten dann schon mal 6.000 Euro.

Wie kann es sein, dass Sie noch nie in den Headquarters Ihrer eigenen Fotoagentur waren?

„Wer Familie hat oder seine Arbeit nicht verlieren möchte, denkt dreimal darüber nach, ob es sich wirklich lohnt, auf die Straße zu gehen, nur um nach zwei Minuten verhaftet und weggesperrt zu werden“

Es gibt ja noch die Büros in Paris und London – und je nachdem, wo man herkommt, ist man einem Büro zugeordnet. Für mich ist das Pariser Büro zuständig.

Ist die Atmosphäre dort so altehrwürdig, wie man sich das vorstellt bei der berühmtesten Fotoagentur der Welt, die einst unter anderem von Robert Capa und Henri Cartier-Bresson gegründet wurde?

Als ich zum allerersten Mal in London war anlässlich des Treffens, bei dem ich in die Agentur gewählt wurde, war das erschlagend. Plötzlich steht man vor den Ikonen, die man immer bewundert hat. Ich glaube, ich bin eigentlich kein schüchterner Mensch, aber in dem Moment war ich total gehemmt. Magnum ist für jemanden, der selbst Dokumentarfotografie macht, für eine Fotojournalistin wie mich, das Nonplusultra. An einem solchen Ort durch die Archive stöbern zu können, die Kontaktabzüge dieser ikono­grafischen Bilder zu sehen, sie berühren zu können, das war sehr inspirierend – aber es war halt auch einschüchternd.

Wie hat man sich das überhaupt vorzustellen? Wie wird man Magnum-Fotografin? Spaziert man ins Büro und sagt: Könnten Sie bitte meine Bilder verkaufen?

Bei mir war das eher untypisch. Normalerweise muss man jemanden kennen, der schon bei Magnum ist, der dich dann vorschlägt, deine Arbeit verteidigt und sich für dich einsetzt. Das ist der normale Weg, aber ich kannte niemanden bei Magnum. Es gibt aber auch die „Open Submissions“, da kann man einfach übers Internet seine Fotos einreichen. Ich bin da sehr blau­äugig rangegangen, noch eine Stunde vor Meldeschluss war ich mir nicht mal sicher, ob ich überhaupt mitmachen sollte. Die Fotografin Bieke Depoorter entdeckte meine Arbeit, und als dann ein paar Monate später der Anruf kam, war das total überraschend. Ich hatte gar nicht mehr daran gedacht.

Haben Sie das Gefühl, Sie sind Teil einer Erneuerung, einer Verjüngung und Diversifizierung bei Magnum?

Moskau im März 2022: Bei Antikriegsprotesten werden Handys überprüft Foto: Nanna Heitmann/Magnum Photos/Agentur Focus

Olivia Arthur wurde 2020 die erste Präsidentin von Magnum und hat viele neue Ansätze und Ideen eingebracht. Und das wird unter Cristina de Middel, die sie dieses Jahr abgelöst hat, sicher weiter so bleiben. Es gibt jetzt einen aktiven Verjüngungsprozess, aber natürlich bleibt die fotografische Qualität weiter das wichtigste Kriterium. Bei den regelmäßigen Treffen, bei denen über die Arbeiten diskutiert wird, geht es echt hart zu. Da wird nicht darauf geguckt, ob jemand eine Frau ist oder jung oder wie die Gesichtsfarbe ist – da wird die Arbeit bewertet.

Das klingt, als gäbe es einen ziemlichen Druck innerhalb der Agentur.

Wenn man in Magnum eingewählt wird, hat man zwei Jahre Zeit, um ein komplett neues Portfolio zu erstellen, bis es die nächsten Wahlen zum Associate Member gibt. Erst nach mindestens vier Jahren ist man mit etwas Glück und viel Arbeit Vollmitglied. Ich bin nun Associate Member. Also ja, es gibt einen gewissen Druck, weil man immer eine neue Arbeit abliefern soll, die am besten noch besser ist als die davor. Das hat mich am Anfang auch total blockiert, ich konnte erst mal gar nicht mehr fotografieren.

Sind Fotoblockaden unter Fo­to­gra­f*in­nen ähnlich verbreitet wie Schreibblockaden unter Schriftsteller*innen?

Keine Ahnung, ob das anderen auch so geht, ich hatte auf jeden Fall eine Fotografierblockade. Aber dann kam zum Glück Covid – und das war ironischerweise für mich wie eine Befreiung, weil ich das Gefühl hatte: Jetzt sitzen alle zu Hause, und niemand erwartet mehr etwas von mir.

Februar 2022: An seinem siebten Todestag gedenken Bürgerinnen des ermordeten liberalen Politikers Boris Nemzow Foto: Nanna Heitmann/Magnum Photos/Agentur Focus

Aber konnten Sie denn rausgehen, um zu fotografieren?

Anfangs nicht, in Moskau durfte man ja nicht mal auf die Straße. Aber da habe ich zu Hause die Situation in der Quarantäne fotografiert. Als man schließlich wenigstens wieder raus durfte, hatte ich über einen Bekannten, der Arzt ist, die Möglichkeit bekommen, in einem Krankenhaus zu fotografieren. Da konnte ich jederzeit rein und wieder raus, das war sehr ungewöhnlich zu dieser Zeit. Dann habe ich andere soziale Themen fotografiert, die mit Covid in Zusammenhang stehen, Obdachlose zum Beispiel.

Wenn Sie solche Themen fotografieren und damit auch Geschichten erzählen, was wollen Sie erreichen?

Tatsächlich ist meine Arbeit mit der Zeit immer journalistischer und dadurch auch politischer geworden. Ich sehe die Fotografie als historisches Dokument. Aber trotzdem stelle ich mir oft die Frage, was Fotografie bewirken kann. Manchmal werde ich depressiv und denke, Fotografie hat sowieso keine Wirkung. Aber nun in der Ukraine merkt man gerade, welche Macht sie doch haben kann. Die Fotografie zeigt uns den ganzen Horror dessen auf, was da gerade passiert – und erzeugt dadurch Empathie und Beistand für die Ukraine.

Thomas Winkler, Autor der taz am wochenende, weiß nicht mehr, wo er seine Spiegelreflexkamera verlegt hat, und sieht sich lieber Bilder von guten Fo­to­gra­f*in­nen an.

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