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Insektenmusik beim Festival in HitzackerEin Konzert durchkreuzt von Tanz

Das Motto „Zeit.Räume“ verweist auf die Pandemie: Die Sommerlichen Musiktage Hitzacker bieten Performances, Insektenmusik und einen Gruß aus Polen.

Arbeitet genreübergreifend: Komponist und Schlagzeuger Johannes Fischer Foto: Boris Breuer

Hitzacker taz | Es ist eine nie alt werdende Frage: Soll Kultur, soll Musik ein Hort des Guten, Wahren, Schönen sein und also auch ein Gegenpol zum schnöden, hektischen Alltag? Oder soll sie ihn vielmehr spiegeln, zitieren, reflektieren? Für Letzteres entschieden haben sich die AkteurInnen des Eröffnungskonzerts der diesjährigen Sommerlichen Musiktage Hitzacker: Sie erproben eine fruchtbare Durchdringung von Konzert, Tanz und Poetry-Slam, erarbeitet vom Kuss-Quartett im Zuge eines Stipendiums der Bundeskulturstiftung. „Die Aufgabe war, neue Konzertformate zu erfinden“, sagt Oliver Wille, Violinist des Kuss-Quartetts – und Intendant des Festivals.

Das Projekt heißt „Kuss@Kokon“ – wobei der Kokon für die Werkstatt steht, in der die neun KünstlerInnen erprobten, wie sich TänzerInnen zwischen den MusikerInnen hindurchbewegen können; oder Text und Schlagwerk unterbrechen, ohne die zeitgleiche Aufführung eines Streichquartetts zu stören „Wir haben uns gefragt: Wie können wir einander durchkreuzen und beeinflussen?“, sagt Wille.

Vielleicht, indem der Tanz oder die Texte des Poetry-Slammers Bas Böttcher Echo, Reflexion, Weiterentwicklung des musikalischen Stoffs sind. Oder indem man, bei Johannes Fischers Komposition „Under Ground für amplifiziertes Ölfass und Tamtam,“ schaut, wie Slam Poetry, Streichquartett und Schlagzeug gemeinsam mit dem Thema „Duft“ umgehen.

Enno Poppes Streichquartett „Freizeit“ wiederum wird von zwei TänzerInnen begleitet, die einen – coronakonform exakt 1,50 Meter langen – Stock halten und so einen „Dis-Tanz“ aufführen. Dazu rezitiert wiederum Bas Böttcher ein Gedicht in 15 Variationen. „Wir waren neugierig zu erfahren, was passiert, wenn verschiedene Kunstformen zeitgleich aufeinander treffen“, sagt Wille.

Kalkulierte Überforderung

Je nachdem, wie sehr die Zeit dabei verdichtet wird, kann das auch mal zu Überforderung führen – wie in Óscar Escuderos nun in Hitzacker uraufgeführtem Stück „POST für Streichquartett, Publikum mit Konzertprogramm und Elektronik“. Da hat der multimediale Komponist und Performer viel hinein gepackt: einerseits die Fortschreibung von Streichquartetten Beethovens, Haydns und Mozarts mithilfe Künstlicher Intelligenz. Das Ergebnis sei„ganz schön“, aber auch „Quatsch“, findet Wille: „Haydn hätte niemals so weiter komponiert.“ Bizarr sei auch jener Moment namens „das gesamte Beethoven-Streichquartettwerk in einer Sekunde“.

(Über)fordernd sind auch die Rahmenbedingungen: „Das Publikum muss, um zu folgen, ständig im Programmheft mitlesen, worauf der Violinist als Sprecher auch permanent hinweist“, sagt Wille. Im Ergebnis lässt sich weder konzentriert zuhören noch mitlesen, Multitasking wird zum Exzess getrieben, der Komponist selbst lenkt das Publikum vom eigenen Stück ab.

Wobei die Frage ist, ob das ausgerechnet das Publikum eines – noch so aufgeschlossenen – Klassikfestivals der richtige Adressat für diese Kritik an Multitasking ist; treibt das nicht eher die Generation der „Digital Natives“ um? Die Stücke an diesem ersten Abend sind bewusst als variabel kombinierbare Module konzipiert, die Reihenfolge legen die AkteurInnen erst drei Tage vor dem Konzert fest; auch das Teil der neuen Flexibilität.

Das diesjährige Festivalmotto „Zeit.Räume“ sei 2020 entstanden, „als wir das einzige Indoor-Musikfestival Deutschlands waren, das in beiden Pandemiejahren in Präsenz stattfinden konnte“, erzählt Wille. „Als in diese allgemeine Lockdown-Stille hinein der erste Ton erklang, war es unglaublich anrührend. Da ist die Zeit stehen geblieben, und ich dachte: So etwas müsste man mal ein ganzes Festival hindurch haben – diesen Moment, in dem wir gemeinsam in einem Raum erleben, wie alles zeitlos wird.“

Hommage an die Kohlschnake

„Zeit.Räume“ zu reflektieren war für die eingeladenen MusikerInnen nicht verpflichtend, aber gern gesehen. So interessiert sich der Cellist Martin Merker von der Camerata Bern in seinem Programm „Insektarium“ nun für das Zeit- und Musikempfinden von, eben, Insekten: Etliche von diesen inspirierte Stücke hat er in der Musikgeschichte gefunden.

So lässt er gleich zu Beginn das neunteilige „Insektarium für Klavier solo“ von Rued Langgaard (1893–1952) spielen. Darin kommen nicht etwa adrette Schmetterlinge oder Bienen vor, sondern der Gemeine Ohrwurm, die Wanderheuschrecke, die Kohlschnake, der Trotzkopf – ein Nagelkäfer – sowie die Gemeine Stechmücke. Anrührende kleine Hommagen sind dem Getier geschrieben worden: Gemächlich kriecht der Ohrwurm daher; etwas transusig wuselt die Schnake; fahrig-desorientiert präsentiert sich die Fliege, suchend und sirrend die Stechmücke. Jedem Tier hat Langgaard Tonlage, Rhythmus und musikalische DNA zugeordnet.

77. Sommerliche Musiktage Hitzacker: 30. 7.– 7. 8. Programm und Karten: www.musiktage-hitzacker.de

Auch die Noten vollziehen Volumen, Flug- und Laufroute des jeweiligen Insekts nach – winzige, fast kalligraphische Spuren auf dem Blatt. Auch handwerklich sind es sehr gekonnte Miniaturen. Dabei galt der dänische Komponist zu Lebzeiten, als sein Landsmann Carl Nielsen schon klar-klassizistisch komponierte, mit seiner romantisch-symbolistischen Musik als eher altmodisch.

Eindrucksvoll auch Langaards Mut, wenig populäre, „hässliche“ Tiere zu besingen: Im zweiten „Insektarium“-Programmteil haben sich die KomponistInnen eher der Hummel und des Schmetterlings angenommen.

„Festivalgruß“ aus Polen

Bleibt die Frage, ob dieses Sammelsurium Hymne oder Abgesang ist. Martin Merker, derzeit schwer erreichbar im Ausland unterwegs, konnte es bis Redaktionsschluss leider nicht beantworten. Aber zufällig ist die Wahl so eines Themas sicher nicht, in Zeiten von Klimawandel und Artensterben.

Auch der diesjährige „Festivalgruß“ – das Gastspiel eines anderen Festivals – transportiert nicht bloß Musik: Beim Abschlusskonzert werden einige BotschafterInnen des polnischen Festivals „Krzyżowa Music“ auftreten. Dort, auf dem einstigen Gut Kreisau, das vor dem Zweiten Weltkrieg der Familie von Moltke gehörte, trafen sich seit 1940 GegnerInnen des NS-Regimes, der „Kreisauer Kreis“. Einige davon, darunter Graf von Stauffenberg und andere Wehrmachtsangehörige, beteiligten sich 1944 am gescheiterten Attentat auf Hitler und wurden hingerichtet.

Heute fungiert das Gelände als internationale Jugendbegegnungsstätte, und seit 2015 geben dort renommierte MusikerInnen im Sommer zweiwöchige Workshops für Nachwuchstalente. Vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs hat Krzyżowa Music nun auch noch eine Initiative namens „Musicians help Musicians“ gegründet: Damit soll geflüchteten MusikerInnengeholfen werden, mit Geld-, Kleider- und Instrumentenspenden, Unterkünften und Übungsräumen.

Einer der künstlerisch treibenden Kräfte des Festivals sei der Cellist Alexey Stadler, sagt Musiktage-Intendant Wille. Der gebürtige St. Petersburger Stadler engagiere sich sehr für „Musicians help Musicians“, gebe etwa Benefizkonzerte. „Ich bin froh, dass auch er nach Hitzacker kommt, so kann er dort auch aus seiner Sicht von dieser Initiative berichten.“

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