piwik no script img

Reif für die Insel

Die Reiselust ist größer denn je – trotz Pandemie, Inflation und Klimakrise. Auch, weil viele fürchten, dass es der letzte große Urlaub sein könnte

Zum Greifen nah: Ein Flugzeug von Finnair landet am Flughafen von Phuket in Thailand Foto: Matt Hunt/Imago

Von Edith Kresta

Alle wollen weg. Nur der Flieger fliegt nicht. Airlines wie die Lufthansa, Eurowings und Easyjet streichen derzeit Tausende Flüge, teils kurz vor Abflug. Die Probleme in der Luftfahrt reißen zur Ferienhochzeit nicht ab. „Befinden sich Flugreisende in der glücklichen Situation, dass ihr Flug dieser Tage ausnahmsweise nicht gestrichen wurde, können sie aufgrund technischer Probleme der Flugsicherung trotzdem nicht abfliegen“, sagt Oskar de Felice, Rechtsexperte und Leiter der Rechtsabteilung bei Flightright, ein auf Verkehrsrecht spezialisiertes Verbraucherportal. „Die Ausmaße und Häufigkeit der Flugprobleme und das Chaos bei den Airlines und deutschen Flughäfen sind für die Flugreisenden einfach nicht mehr zumutbar.“

Der Weg zum Urlaubsparadies führt für viele durch die Flughafenhölle. Dabei ist die Reiselust größer denn je. Man habe sich in den vergangen zwei Jahren zwar „an die Rahmenbedingungen angepasst“, sagt Martin Lohmann von der Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen (FUR). „Die Menschen haben aber in keiner Weise die Wertschätzung fürs Reisen verloren. Weder wollen sie weniger reisen noch weniger weit weg.“

Im Gegenteil, so ein Ergebnis der Reiseanalyse von FUR, sie haben Nachholbedarf. Vor Beginn des Ukrainekrieges planten 61 Prozent der Befragten in diesem Jahr sicher eine Urlaubsreise ein. Und wenn es um ihren Urlaub geht, sind die Bundesbürger opferbereit. Ob Flughafenchaos, Inflation, die Warnungen des Bundesgesundheitsministers Karl Lauterbach vor der ansteckenden Coronavariante BA.5 oder die Hitzwellen des Klimawandels – die Verheißung sonnendurchfluteter Strände hat nichts an Attraktivität verloren. Die Menschen sind reif für die Insel und erschöpft von den Anfechtungen durch Virus, Krieg und Umweltzerstörung.

Die beliebtesten Ziele der Deutschen für diesen Sommer sind die Altbekannten: „Spanien mit Mallorca und den Kanaren, die Türkei und Griechenland“, sagt Torsten Schäfer vom Deutschen Reiseverband (DRV). Aber auch die Dominikanische Republik und die Malediven seien stark nachgefragt. „Die Fernreise ist zurück“, sagt Schäfer. Auch TUI plant in Zukunft weiteres Wachstum auf der Fernstrecke. „Der Senegal wird unser Geheimtipp für den kommenden Winter. Das Land bietet eine spektakuläre Natur mit Traumstränden,“ steht in einer Pressemitteilung des Reisekonzerns. Nach zwei Coronasommern in heimischen Gefilden ist Tapetenwechsel angesagt.

Euphorie, Fernweh, Lebenslust – die Menschen wollen raus. Und am Urlaub wird nicht gespart. „Insbesondere in den letzten Wochen ist die Nachfrage extrem stark. Es gibt kaum ein Segment oder ein Ziel, das aktuell nicht nachgefragt wird“, bestätigt TUI-Sprecher Aage Dünhaupt. „Eine Woche all inclusive, für zwei Erwachsene und zwei Kinder, das geht bei 2.000 Euro los“, sagt Dünhaupt. Die meisten Kunden würden aber für 2.500 bis 3.500 Euro die Woche buchen – Vier-Sterne-Hotels in Spanien oder der Türkei. „Für die Mehrheit unserer Gäste ist der Urlaub die größte und wichtigste Konsum­ausgabe des Jahres“, weiß Dünhaupt. Man gönne sich was und der Anspruch sei gestiegen. „Viele bleiben länger, buchen bessere Zimmer oder Hotels mit mehr Sternen und großzügigerer Anlage“. Und er propagiert die Vorzüge der Pauschalreise: Pauschalreisende müssen sich, anders als die reinen Flugpassagiere, nicht damit herumärgern, einen Ersatz für gestrichene Flüge zu finden. Das übernimmt der Reiseveranstalter für sie.

Wie sich der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine auf die Nachfrage auswirkt, ist Veranstaltern zufolge derzeit noch nicht abzusehen. Grundsätzlich hätten Katastrophen, Kriege und Terror in den vergangenen Jahrzehnten an der Nachfrage nichts geändert, weiß FUR-Tourismusforscher Martin Lohmann. Urlauberinnen und Urlauber seien auf andere Ziele ausgewichen.

Der Tourismus boomt, doch dass dieser Trend lange anhält, kann bezweifelt werden. Denn bei einer Inflation von acht Prozent wird der Geldbeutel schneller leer. „Viele sagen sich nach der Coronaerfahrung auch, es ist vielleicht das letzte Mal“, sagt Tourismusforscher Lohmann. Wenn Energie noch teurer wird und die Nachzahlungen kommen, bleibt weniger in der Kasse. Hinzu kommt: Die Preise steigen jetzt, wenn Reiseveranstalter neue Reisen auflegen und Hotel- und Flugkontingente nachkaufen.

TUI-Sprecher Dünhaupt warnt davor, dass die im vergangenen Jahr zu vergleichsweise günstigen Preisen eingekauften Kontingente demnächst auslaufen. „Die Inflation durch gestiegene Energiekosten und Lebensmittelpreise wird auch bei der Reise nicht haltmachen – perspektivisch wird sich diese Entwicklung auch beim Reisen auswirken“, sagt auch DRV-Sprecher Torsten Schäfer.

Könnte der Reisesommer 2022 der Anfang vom Ende des Reisebooms sein? Steigende Preise und wachsender Flugärger sind möglicherweise Vorboten: Easyjet kündigte vergangene Woche an, weitere Flüge zu streichen – über die 1.000 Verbindungen hinaus, die schon von Juni bis August allein am BER ausfallen. Die Lufthansa hat für die Sommerferienzeit mehr als 3.000 innerdeutsche und innereuropäische Flüge an den Drehkreuzen Frankfurt und München „aus dem System genommen“, wie ein Sprecher sagt. Bei der Lufthansa-Tochter Eurowings sind es Hunderte weitere Flüge, die im Juli nicht wie geplant stattfinden. Die Airlines demontieren sich selbst.

Hinzu kommt die Klimadiskussion. Tröstete man sich zu Coronazeiten mit der aufkeimenden Flugscham, weil man ohnehin nicht reisen konnte, oder ist die Flugscham als Reaktion auf die Klimakrise gesellschaftlich tatsächlich relevant geworden? „Immer mehr Menschen finden, dass in den beiden Dimensionen sozial und ökologisch die Nachhaltigkeit für sie ein wichtiger Aspekt ist“, weiß Martin Lohmann aus den Ergebnissen der jährlichen Reiseanalyse. „Da gibt es schon mehr Aufmerksamkeit auf die Transportmittel. Es gibt auch eine wachsende Bereitschaft zu kompensieren, wenn man schon klimamäßig Unfug anstellt.“

Nachhaltigkeit sei eine Bedingung, unter der man gerne Urlaub machen möchte, aber letztlich für die Produkt­entscheidung nicht ausschlaggebend. Auch der einwöchige Bali-Trip gehört noch lange nicht der Vergangenheit an. „Jedenfalls nicht aus Einsicht. Wenn, dann wird es solche Reisen weniger geben, weil die Möglichkeiten geringer werden, weil die Kosten steigen“, sagt Lohmann. Wichtiger als die Einstellung sei, dass sich im Flugbereich auf der Angebotsseite etwas verändert: dass weniger Kapazitäten zur Verfügung stünden und die Preise stiegen.

Dabei gilt manchen der Billigflieger ans Mittelmeer als Garant gesellschaftlicher Teilhabe. Doch er ist nicht nur eine große CO2-Schleuder, sondern auch ein renditeorientierter Ausbeuter. Obwohl die Branche in der Coronakrise Milliarden an staatlichen Hilfen erhielt und Kurzarbeiterregelungen in Anspruch nehmen konnte, hat sie in großem Stil Personal abgebaut. Vor allem wenig ausgebildete Beschäftigte in den Logistikbereichen sind zu Paketdiensten abgewandert. Auch weil „Unternehmen das Kurzarbeitergeld nicht aufgestockt haben“, sagt Arbeitsminister Hubertus Heil der taz.

„Eine Woche all inclusive, für zwei Erwachsene und zwei Kinder, das geht bei 2.000 Euro los. Für die Mehrheit unserer Gäste ist der Urlaub die größte Konsumausgabe des Jahres“

Aage Dünhaupt, TUI

Der Sommer 2022 zeigt alte Verhaltensweisen und chaotische Transportbedingungen. Der standardisierte Tourismus, der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entstand, gehört heute wie selbstverständlich zu unserer Lebensweise. Und er steht für das Versprechen auf Teilhabe aller Menschen am hart erarbeiteten Wohlstand in einer auf Ressourcenverbrauch orientierten Wohlstandsgesellschaft. Er hält mit immer stärker individualisierten Angeboten für jeden etwas bereit. Die Tourismusindustrie ist ein Erfolgsmodell, das auf stetigem Wirtschaftswachstum beruht und auf uneingeschränktem Ressourcenverschleiß, genauer gesagt: dem Verbrauch und der Vermüllung, der Betonierung der Strände und der Schädigung des Klimas. Weltweit wurden die Strände ausgebaut mit Bettenburgen und luxuriösen All-­inclusive-An­la­gen.

Wenn sich vor den Coronalockdowns die Menschen an den Besucher­hotspots drängelten und überall von Overtourism die Rede war, dann, weil Billigflieger dorthin flogen, die Mittelschichten weltweit diese Infrastruktur nutzten und weltweit der Wohlstand dieser Mittelschichten wuchs. Kerosinbesteuerung, Regulierungen der allgemeinen Reisetätigkeit durch die Politik oder faire Preise für faire Produkte gelten vielen als Bedrohung ihrer politisch verbürgten Rechte.

Was ist also mit dem Paradigmenwechsel beim Reisen, der während der zwei Jahre Corona-Ausnahmezustand immer wieder thematisiert wurde? Damals, als das Topthema Spaziergänge waren. „Auf der Branchenseite hat die Coronakrise so etwas wie ein Wachrütteln ergeben“, sagt Tourismusforscher Lohmann. „Man dachte immer nur an Wachstum. Da ist man vorsichtiger geworden und legt mehr Wert auf seine Widerstandskraft, um durch die nächste Krise zu kommen. Deswegen sind viele Unternehmen verhaltener als sie vorher waren. Das tut der Branche gut.“

Uns Touristen auch. Wir müssten anspruchsvoller werden. Qualität ist angesagt, nicht nur in Bezug auf Hygiene, Sicherheit und Raum, sondern auch in Bezug auf die Anreise, die regionale Versorgung vor Ort, das ökologische Produkt.

Das Umdenken hin zu mehr Nachhaltigkeit beim Reisen hat zumindest begonnen. Länger, intensiver, weniger – das empfehlen tourismuskritische Portale für Fernreisen. Es gibt nachhaltige Angebote, von denen die Regionen profitieren und auch Veranstalter, die sie anbieten. Diese müssten bekannter werden. Europa hat sich kulturell aufpoliert und die Infrastruktur für nachhaltigen Urlaub gefördert – vieles ist nun leicht zugänglich über Apps, Websites, Foren und andere Communitys. Und auch das bodenständige Reisen mit dem Zug wird immer stärker thematisiert und praktiziert, obwohl es dort gerade das große Drängeln gibt. Es ist der Zug der Zeit.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen