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Buch über weibliche SelbstermächtigungVergessene Geschichte

Rebellinnen, Radikale, Queers: Saidiya Hartman rekonstruiert die unkonventionellen Biografien junger afroamerikanischer Frauen.

Autorin Saidiya Hartman Foto: John D. and Catherine T.MacArthur Foundation/ap

Was ist der radikale Wunsch, ein freies Leben mit Liebe, Schönheit und Hoff­nung zu führen, gegen die Macht von Staat und Gesetz? In „Aufsässige Leben, schöne Experimente“ erzählt und collagiert Saidiya Hartman die Leben schwarzer Frauen und Queers der zweiten und dritten Generation nach dem Ende der Sklaverei. Sie zeichnet ihre subversiven Leben fernab von Konventionen und patriarchalen Normen nach.

Hartman, US-Professorin für afroamerikanische Literatur, stößt in Archiven auf ihre Geschichten. Diese Archive geben vor, nüchterne Aufbewahrungsorte von Geschichte zu sein. Tatsächlich sind sie Orte der Macht, die „Wissen“ und „Wahrheiten“ produzieren. In den Archivmaterialien sind die Porträtierten nur Delinquentinnen und Fürsorgefälle. Delinquentinnen aus welcher Perspektive?

Sie will ihre Geschichten anders, neu erzählen: Anstelle einer reinen Opfererzählung entwickelt sie eine Ermächtigungserzählung. Hartman verfasst eine serielle Biografie, die vielen Handelnden vermischen sich zu einem Chor. Phasenweise ist der Text atemlos, dabei rhythmisch so stark, dass er wie ein Rap anmutet.

Anna Jäger hat ihn vorzüglich aus dem Englischen übertragen. Hartman bedient sich literarischer Methoden, was die Sogwirkung ihres Buches erklärt. So wählt sie den Modus des verschränkten Erzählens, bei dem Erzählerstimme und Bewusstsein der Person, von der erzählt wird, verschwimmen.

Das Buch

Saidiya Hartman: „Aufsässige Leben, schöne Experimente“. Aus dem Englischen Anna Jäger. Claassen Verlag, Berlin 2022, 528 Seiten, 28 Euro

Erzählen ohne Wahrheit

Weil es über die Personen, die Hartman porträtiert, nur wenige gesicherte Informationen gibt, tritt an die Stelle des Wissens das Einfühlen. Das klingt unwissenschaftlich, reflektiert aber die postmoderne Erkenntnis, dass biografisches Erzählen ohnehin keine „Wahrheiten“ kons­truie­ren kann. Wer kann schon wissen, was ein Mensch wirklich dachte oder fühlte?

Andererseits ist dieser Erzählmodus seit Längerem in den Geschichtswissenschaften etabliert. Der deutsche Leser etwa mag sich an Johannes Frieds Biografie über Karl den Großen erinnern, die die zahlreichen Leerstellen, die die Historiografie selbst bei diesem berühmtesten der deutschen Kaiser kennt, mit Dichtung füllte.

Ausgangspunkt für ihr Buch, so beschreibt es die Autorin im Text, ist die Betrachtung der Fotografie eines kleinen, schwarzen Mädchens, das nackt auf dem Sofa eines weißen Malers posieren muss. Es ist ein namenloses Mädchen, über das Hartman auch nach langer Recherche nichts herausfinden kann. Wer immer sie, die als „Odaliske“ bezeichnet wird, sein mag: Das Bild erzählt nur von einem Augenblick, der Betrachter ist gezwungen, sich vorzustellen, was auf das Bild folgt.

Missbrauch steht als Möglichkeit im Raum. „Es ist ein andauerndes Bild intimer Gewalt. Das Mädchen könnte mehrere Jahrhunderte alt sein, so viel Zeit sammelt sich auf ihrem kleinen Körper an. Sie trägt das Gewicht von Sklaverei und Imperium, verkörpert den Verkehr von Waren, vernäht die Identität der Sklavin mit der der Pros­ti­tuierten. All dies macht es ihr unmöglich, ein Kind zu sein.“

Erschütternde Schicksale

Auch viele der anderen erzählten Schicksale sind erschütternd. Etwa die Geschichte Matties, einer Teenagerin aus den Südstaaten, die nach New York kommt, um frei zu sein. Doch auch hier muss sie von morgens bis abends für einen mickrigen Lohn schuften. Neben der Ausbeutung durch Lohnarbeit sind Frauen wie Mattie von sexueller Ausbeutung betroffen.

Schwarze Mädchen und Frauen erscheinen vor dem Gesetz als „unrapable“, da man sie als frühreif bzw. promisk einstuft. Dann wird die Teenagerin Mutter. Das genügt für ihre Internierung. Sie wird geschlagen, man verweigert ihr Nahrung. Bei Besuchen kann die Mutter die verzweifelten Schreie ihrer Tochter hören.

Hartman kann die Geschichte von Frauen wie Mattie nicht ändern. Aber sie kann sie als Menschen mit Träumen und eigenen Absichten porträtieren. Sie lebten ihr Leben mit radikalem Mut, einer Form von Mut, wie sie nur aus der Hoffnungslosigkeit entsteht.

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