Glaube an bessere Tage: Das Gegenteil von Weltschmerz

Wie verliert man als Mensch nicht die Hoffnung auf einem Planeten, der voller Enttäuschungen ist? Gedanken über die bedingungslose Liebe zu allem.

Aufblasbarer Globus verliert Luft

Bedingungslose Liebe ist ein schwieriges Thema bei all der Hoffnungslosigkeit auf dem Planeten Foto: imagebroker/imago

Vier Freunde steigen bei Nacht auf einen Hügel und schauen den Mond an, von dem sie wissen, dass auf ihm böse Menschen leben. Sie diskutieren, ob die Menschen auf dem Mond wirklich böse sind – ob eine Welt überhaupt je ganz und gar böse sein kann.

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„In jeder Gesellschaft, egal wie sie ist, muss es ein paar Anständige geben.“ So geht die Geschichte in Ursula Le Guins Science-Fiction-Klassiker „The Dispossessed“ – auf Deutsch lautet der Titel wahlweise „Planet der Habenichtse“ oder „Freie Geister“. Le Guins Protagonist lebt auf dem Planet der Anarchie, wo man keine Regierungen kennt und kein Eigentum. Für ihn und seine Freunde sind die „Menschen auf dem Mond“, die Kriege führen und Geld benutzen, fremd und gefährlich. Und doch strebt der Protagonist danach, jene Welt zu einer besseren zu machen – und damit auch seine eigene, denn auch die Anarchie ist alles andere als perfekt. Die Liebe zur Idee von einer besseren Welt treibt ihn an, ist größer als seine Liebe zu anderen Menschen.

Ich lese „The Dispossessed“ Ende Februar, während draußen in Europa offenbar die alte, berechenbare Krise von der neuen, unberechenbaren Krise abgelöst wird. Und ich frage mich, wie das funktionieren soll, dass man eine Welt, die vor sich hin zugrunde geht, so sehr liebt, dass man sich immer wieder aufrafft, sie ein bisschen besser zu machen.

Denn die Kriege hören ja nicht auf und die Böden werden trockener und die Autos mehr und die Ausbeutung, die hab ich mittlerweile als App auf dem Handy. Apropos Handy, auf meinem Handy streiten sich Menschen täglich darüber, was andere Menschen falsches gesagt haben. Alles Menschen mit Idealismus, denke ich, die idealistisch am Rad drehen.

„Liebe ist alles, alles, was wir brauchen“ sang schon Rosenstolz 2004. Doch was ist Liebe überhaupt? Der Duden meint: Liebe ist eine Bezeichnung für stärkste Zuneigung und Wertschätzung. Doch lässt sich in Zeiten von Krisen und Kriegen überhaupt noch lieben? Wie politisch ist das Ganze? Und was haben Rassismus, Psycho­therapie und Digitalisierung damit zu tun? Diesen großen und kleinen Fragen wollen wir uns von nun an regelmäßig in der gedruckten taz und auf taz.de widmen.

Nicht-Klarkommen auf hohem Niveau

Menschen mit Idealismus finden, dass die Welt besser werden muss. Wenn die Welt dann das Gegenteil davon tut, dann leiden sie. Die einen sagen dann Dinge wie „War doch klar!“, ziehen die Schultern hoch und an ihrer Zigarette und werden zynisch und heiser. Die anderen schmeißen sich in Aktionismus oder trauern still vor sich hin. Sie alle leiden unter Welt-Liebes-Kummer. Oder eben: Weltschmerz.

Weltschmerz ist so ein Wort, das wahrscheinlich alle verstehen, obwohl wahrscheinlich je­de*r etwas völlig anderes damit meint. Aber als Wortschöpfung ist es genial. Angeblich hat der Schriftsteller Jean Paul, der im 18. und 19. Jahrhundert gelebt hat, das Wort geprägt, aber vermutlich war er bloß der erste, der es aufgeschrieben hat. Weltschmerz fühlt sich garantiert unterschiedlich an, aber mit dem Wort kann man immerhin drüber reden. Alle verstehen’s (auch wenn’s nicht je­de*r ernst nimmt). Zeit Campus ließ neulich eine Therapeutin erklären, was der Unterschied zwischen Weltschmerz und Depression ist, sie wurde dabei aber gar nicht gebeten, Weltschmerz zu definieren. Vielleicht ist das Wort auch ein bisschen zu niedlich, zu abgegriffen, zu wenig präzis. Zu romantisch? Klingt nach Nicht-Klarkommen auf hohem Niveau, depressive Verstimmung mit Abi.

Die britische Poetin Anne Clark umschreibt ihren Weltschmerz so:

Hier nimmt die Stille ihren Lauf

Menschen mit Idealismus finden, dass die Welt besser werden muss. Wenn die Welt das Gegenteil davon tut, dann leiden sie

Und die Traurigkeit reibt sich angesichts unserer die Augen

Wir fallen von einem Gerüst, gebaut auf unruhige Gedanken,

Meine Welt wird zu Eisen – und kalt wie Winter.

Romantisch ist vielleicht gar nicht so schlecht, denke ich. Die original Ro­man­ti­ke­r*in­nen verzweifelten ja vor allem daran, dass ihr 19. Jahrhundert alles präzise zu machen versuchte – aber dabei vor lauter Wandel völlig unberechenbar war. Demokratie hier, feudaler Backlash dort, Revolution, gescheiterte Revolution, industrielle Revolution. Die Ro­man­ti­ke­r*in­nen waren gleichzeitig in Aufbruchstimmung und wollten sich mit Netflix unter der Decke verkriechen. Kein bisschen anders als ich heute.

Positives Denken

Was ist aber das Gegenteil von Weltschmerz? Wie kommt man da wieder raus? Irgendwann muss das Leben doch weitergehen, man wird immerhin gebraucht, nicht wahr?

Was definitiv nicht das Gegenteil von Weltschmerz ist, ist „Positives Denken“. Zugegeben, positives Denken hat seinen schlechten Ruf zu Unrecht, denn es ist eine lebenswichtige und auch soziale Fähigkeit. Aber „Positive Thinking“ ist von der Meme- und Kalenderindustrie leider plattgewalzt worden. Zu etwas, das man einfach mal eben ständig zwischendurch tun soll, ohne dass einem jemand etwas sagt, wie: Der Depression ist es nicht gewachsen, dem Weltschmerz auch nicht. Außerdem: Positives Denken hat uns doch erst den Weltschmerz eingebrockt – wir glauben an das Gute, deshalb leiden wir.

Eine andere Option ist Sich-Versenken. Rein in den Weltschmerz mit stillem Gebrüll. Die Ro­man­ti­ke­r*in­nen waren der Ansicht, dass seelisches Leid etwas ganz Großartiges sei. Sie erfanden in ihren Geschichten unglückliche Naturgeister, die nicht fühlen konnten und sich nach menschlichen Seelen sehnten, mit all deren Schmerz. Hans Christian Andersens „kleine Meerjungfrau“ zum Beispiel. Oder die „Schöne Lau“ bei Eduard Mörike, die das Lachen verlernt hat. Romantische Dichter würden vermutlich dazu raten, das stille Seelenleid so richtig hochzudrehen und es am besten zu Papier zu bringen.

Weg von anderen

Vielleicht ist es genau das, was Matthew Arnold getan hat, als er um 1850 herum das Gedicht „Dover Beach“ schrieb. In „Dover Beach“ fordert Arnold uns auf, zuzuhören, wie an der Küstenbrandung die Kiesel aus sämtlichen Weltmeeren zu Sand zermahlen werden.

„Ach, Liebe! Laß uns aneinander | Treu sein! Denn die Welt, die vor uns, | Wie ein Traumland zu stehen scheint, | So unterschiedlich, so schön, so neu, | Hat wirklich weder Freude, noch Liebe, noch Licht; | Noch Sicherheit, noch Ruhe, noch Schmerzenserlaß; | Und wir sind hier, als ob auf einem dämmernden Feld, | Umstellt mit verworrenen Alarmen des Streits und der Flucht,
 Wo unwissende Heere zur Nacht zusammenstoßen.“

Wunderbar, aber Sich-Versenken in den Weltschmerz führt auch weg von anderen, immer weiter in einen selbst rein. „Egoisieren“ nennen das die Menschen auf Ursula Le Guins anarchistischem Planeten. Denn was ist, wenn die romantische Dichterin irgendwann wieder von ihrem Weltschmerz-Weinberg runtersteigen möchte – oder muss?

Aufreißen der Wunden

Anderer Ansatz: Angenommen, Weltschmerz ist unerfülltes Begehren. In der westlichen Mythologie und in der jüdisch-christlichen Schöpfungsgeschichte ist Begehren immer eine Wunde. Im ersten Buch Mose wird der Mensch aus dem Paradies verbannt. Aber eigentlich ist er schon davor unvollständig, weil er der Erde entnommen ist, zu der er früher oder später zurückkehren muss. bell hooks sieht Menschen als verwundet, weil Gesellschaft oder Eltern uns früh verbaten, unser wahres Begehren zu offenbaren.

Vielleicht ist Weltschmerz einfach Grundsubstanz vom Menschsein. Heilungsschmerzen vom ständigen wieder-Aufreißen der Wunden. Nicht gerade appetitlich.

Und jetzt? Strategien gibt's so viele wie Weltschmerze. Manche Freun­d*in­nen machen sich einen romantischen Popsong an, andere jammen den Schmerz zu einer Rockballade nach draußen. Wieder andere schwören auf Gelassenheits-Mantras. Für bell hooks ist das Lieben politische Praxis.

Glaube an bessere Tage

Meine persönliche Strategie ist Hoffnung. Emily Dickinson nennt die Hoffnung das „Federding in der Seele, das ohne Worte singt und niemals müde wird“. Fast 150 Jahre später, im Jahr 2003, schreibt die Queer-Theoretikerin Eve Kosofsky Sedgwick mit Blick auf die AIDS-Katastrophe: „Hoffnung ist ein Erlebnis, das oft brüchig oder traumatisch sein kann.“ Sedgwick ermutigt dazu, die Scherben aufzuheben und zu etwas ganz Neuem zusammenzubauen. Hoffen kann man allerdings im Gegensatz zu weltschmerzen nicht allein. Hoffnung funktioniert so: Irgendjemand ist immer gerade mal kurz ein wenig hoffnungsvoll und trägt die Gruppe ein Stückchen auf seinem Seelen-Federding mit, bevor jemand anderes übernimmt. Man muss sich nur zusammentun mit den anderen Weltverliebten, den zynisch Zigarette-Rauchenden, den aufgeregt Aktiven, den leise Leidenden und sich gegenseitig tragen.

Denn egal, wie man mit Weltschmerz umgeht: Gemeinsam hat man den Glauben an bessere Tage. Und das heißt, dass man die Chance hat in der Krise seinen Platz, seine Aufgabe zu finden. So machen es die An­ar­chis­t*in­nen in Ursula Le Guins Utopie. Ständig scheiternd lassen sie sich immer weiter von der Hoffnung leiten, dass sich irgendwann das Bessere durchsetzt. Sie lieben ihre Welt bedingungslos, auch wenn sie sie immer wieder enttäuscht.

Romantisch, oder?

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