Politische Beteiligung in Lateinamerika: Neuer indigener Aufbruch
In den Anden-Staaten sind Indigene zur Speerspitze der sozialen Bewegungen geworden. Sie wissen um ihre Rechte und sind besser ausgebildet als früher.
L eonidas Iza heißt das Gesicht der Proteste in Ecuador. Der Mann mit dem roten Poncho, dem kecken, kleinen Hut und dem langen Zopf ist vom Präsidenten Guillermo Lasso quasi zu seinem Kontrahenten stilisiert worden. Als Putschisten hat Lasso, ein weißer 66-jähriger erzkonservativer Banker, den 39-jährigen Indigenen bezeichnet.
Am Verhandlungstisch wollte Lasso den 2021 mit überwältigender Mehrheit zum Präsidenten des indigenen Dachverbandes Conaie gewählten Iza zunächst nicht sehen. Ende Juni beendeten Verhandlungen zwischen indigenen Vertreter:innen und der Regierung die 18 Tage andauernden landesweiten Streiks, die durch massive Preissteigerungen im Land ausgelöst worden waren..
Doch an Iza, der der indigenen Gruppe der Quechua-Panzaleo angehört, führt in Ecuador kein Weg mehr vorbei. Er hat den politischen Aktivismus quasi mit der Muttermilch aufgesogen. Sein Vater gehört einst zu den historischen Anführern der Landarbeiterbewegung von Cotopaxi, einer Provinz südlich der Hauptstadt Quito.
Indigene, die sich organisieren, Rechte einfordern und sich nicht mit den Brosamen zufriedengeben, die vom Tisch einer auf Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und meist neoliberal ausgerichteten Politik fallen, das ist vollkommen neu in Lateinamerika. Das ecuadorianische Beispiel eines gut organisierten indigenen Dachverbandes hat Schule gemacht in den Anden-Staaten Lateinamerikas.
Die Wiphala, die von leuchtend bunten Quadraten geprägte Flagge der indigenen Bevölkerung des Andenhochlands, weht in der gesamten Region. Besonders kräftig flattert sie in Bolivien, wo mit Evo Morales im Dezember 2006 der erste indigene Präsident gewählt wurde; aber auch in Kolumbien ist sie das Symbol des indigenen Aufbruchs.
Der manifestiert sich über die Landesgrenzen hinweg in immer besser aufgestellten indigenen Organisationen, die auf die Verfassungsrechte pochen und sich nicht mehr von den herrschenden Eliten vorschreiben lassen wollen, welche Rechte sie haben sollen und welche nicht. Indigene machen sich zunehmend mit den Gesetzen und ihren Rechten vertraut.
In Kolumbien sitzen Indigene mit am Verhandlungstisch oder streiten für ihre Rechte, wenn es um Landnutzung, Gesundheitsversorgung oder Bildung geht: Indigene Jurist:innen, die Gemeinden bei geplanten Rohstoff-Förderprojekten beraten und vertreten, Journalist:innen, die dafür sorgen, dass indigene Ethnien sichtbar werden, indigene Genossenschaften, die Agrarprodukte vermarkten und Eco-Touren anbieten, sind nicht mehr die Ausnahme.
Eine neue, oft gut ausgebildete Generation ist in Kolumbien und Ecuador aktiv. Dort sind autonome Organisationsstrukturen entstanden, von denen Perus indigene Bewegung noch weit entfernt ist, während in Bolivien die von Evo Morales geleitete Bewegung zum Sozialismus (MAS) alles dominiert. Machtmissbrauch, eine Strategie der Vereinnahmung und Vetternwirtschaft werfen Kritiker der MAS vor, die anders als die indigenen Dachverbände in Kolumbien andere indigene Akteure neben sich kaum duldet.
Knut Henkel
ist freiberuflicher Journalist, Experte für Lateinamerika und lebt in Hamburg. Er reist normalerweise mehrmals im Jahr nach Lateinamerika und schreibt für die taz, das „Amnesty Journal“ und die NZZ.
In Ecuador saßen neben Conaie-Präsident Leonidas Iza drei weitere Repräsentant:innen anderer indigener Organisationen am Verhandlungstisch. Für Yaku Pérez, Kandidat der indigenen Partei Patchakutik bei den Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2021, ist dies ein Indiz für die Vielfalt der sozialen Bewegung in Ecuador, zu deren Speerspitze sich die indigene Bewegung entwickelt hat; im Nachbarland Kolumbien ist das ähnlich.
Dort sind die Märsche der indigenen Organisation, die sogenannten Mingas, Kernbestandteil der massiven sozialen Proteste von 2019 und des nationalen Streiks von 2021. Die legten das Land über Monate lahm – eine augenfällige Parallele zu Ecuador. In beiden Fällen waren die jeweiligen konservativen Regierungen nicht bereit, sich auf Verhandlungen einzulassen, kriminalisierten die Proteste und ließen die Sicherheitsbehörden gegen die Protestbewegung vorgehen. Menschenrechtsorganisationen berichten in Ecuador von mindestens sechs Toten und mehr als 300 Verletzten, in Kolumbien waren es mehr als 80 Tote und mehr als 300 Vermisste.
Dies ist ein Blutzoll, der in beiden Fällen vermeidbar gewesen wäre – wenn die Regierung bereit gewesen wäre, frühzeitig zu verhandelt, so Analysten wie der ecuadorianische Jurist Mario Melo und dessen kolumbianischer Kollege Alirio Uribe. Sie attestieren den Regierungen Ignoranz, Arroganz, aber auch einen strukturellen Rassismus gegenüber dem indigen geprägten Protest. Morddrohungen an die Adresse von Leonidas Iza und Schüsse auf sein Auto belegen das.
Politische Beteiligung eingefordert
In Ecuador und Kolumbien fällt es den traditionellen Eliten schwer, den neuen politisch aktiven Akteur zu akzeptieren. Sie setzen auf alte Konzepte, versuchen die indigene Bewegung zu spalten, wie es Ecuadors Präsident Guillermo Lasso mit dem beabsichtigten Ausschluss von Leonidas Iza von den Verhandlungen versuchte. Izas Appell spricht Bände: „Wir Indigenen produzieren in Ecuador die Nahrungsmittel, wir tragen zur Wirtschaft dieses Landes bei. Hören Sie auf mit dem Klassenhass!“, erklärte er an die Adresse der traditionellen Eliten.
Die sollen endlich akzeptieren, dass sich die indigenen, aber auch die afroecuadorianischen und afrokolumbianischen Minderheiten organisiert haben und politische Partizipation einfordern. Daran führt kein Weg vorbei, wie der Erfolg von Francia Márquez in Kolumbien zeigt. Als erste afrokolumbianische Frau wird sie Vizepräsidentin des Landes.
In Ecuador ist etwas Vergleichbares durchaus möglich, wie das knappe Scheitern von Yaku Pérez bei den Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2021 zeigte. Der indigene Jurist landete in der ersten Runde der Stichwahlen auf dem undankbaren dritten Platz – ein weiterer Beleg für den zweiten indigenen Aufbruch in Lateinamerika.
Knut Henkel ist Politikwissenschaftler und schreibt als freier Korrespondent unter anderem für die taz und das „Amnesty Journal“ zu Wirtschaft und Gesellschaft der lateinamerikanischen Staaten. Er ist mehrmals im Jahr auf Recherche vor Ort.
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