: Deutschlands Verantwortung
Wie der renommierte US-amerikanische Historiker Timothy Snyder mit Geschichtsbildern Politik im Krieg macht
Timothy Snyder ist ein US-amerikanischer Historiker und Professor an der Yale University. Bekannt wurde er 2010 mit der Studie „Bloodlands“, die eine neue Perspektive auf den NS-Vernichtungskrieg im Osten und die stalinistischen Morde warf. Das Buch zeigt die Gewaltdynamiken von 1939 bis 1945 in dem Gebiet des östlichen Polens, Weißrusslands, der Ukraine, des Baltikums und des westlichen Russland und den Terror gegen die Zivilbevölkerung.
Im Spiegel erschien Ende Mai ein Essay Snyders, in dem er Russland als „ein eindeutig faschistisches Regime“ bezeichnet, „das einen Vernichtungskrieg gegen einen Nachbarn führt“. Deutschland, so Snyder, „ist die wichtigste Demokratie Europas, vielleicht sogar der Welt“ und habe aufgrund seiner intensiven Aufarbeitung des im deutschen Namen begangenen Vernichtungskrieges nach 1939 eine besondere Verpflichtung gegenüber der Ukraine.
In einem Interview der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung Anfang Juni bezeichnete Snyder „den gesamten russischen Staat als faschistisch“. Es gebe eine Einparteienherrschaft, einen Kult des Führers und des Imperiums und Verschwörungstheorien. In der Ukraine führe Putin einen Vernichtungskrieg, der zum Völkermord führe. „Ich spreche von Faschismus, weil Faschismus viele Gestalten hat. Es gibt britische, französische, italienische, deutsche oder amerikanische Faschisten, und alle sind ein wenig anders. Wenn ich jetzt sagen würde, Putin ist wie Hitler, dann wäre das zu eng gefasst.“
Allerdings zieht Timothy Snyder wesentliche Parallelen zwischen Putin und dem NS-Regime: „Deportation war eine Methode Hitlers. Heute sind anderthalb Millionen Ukrainer deportiert worden. Das ist Völkermord. Ukrainische Kinder werden entführt, um zu Russen gemacht zu werden. Das ist Völkermord. Die Russen töten die Eliten der besetzten ukrainischen Gebiete, und auch das ist Völkermord.“
Das zentrale Ziel des NS-Krieges sei die Ukraine gewesen: „Die Kolonisierung der Ukraine war Hitlers Hauptziel im Zweiten Weltkrieg.“ Die Metapher der Kolonisierung der Ukraine ist in Snyders Argumentationskette von zentraler Bedeutung. Denn Deutschland zögere 2022 mit Waffenlieferungen an Kiew, weil es seine Rolle als Kolonisator 1941 verdrängt habe. O-Ton Snyder: „Es wäre eine historische Chance für Deutschland, hier auf der richtigen Seite zu stehen. Erinnerungspolitik könnte zu wirklicher Ostpolitik werden. Deutschland als frühere Kolonialmacht könnte auf die Stimme des kolonisierten Volkes hören und bei seiner Verteidigung ganz vorne stehen.“ Berlin habe für die Ukraine als frühere „Kolonialmacht mehr Verantwortung als jeder andere Staat der westlichen Welt.“ Stefan Reinecke
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen