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Politisierung auf der documenta 15Kunst im Anflug auf Kassel

Der postkoloniale hat den proletarischen Internationalismus in der Debatte abgelöst. Doch wie reagiert die Kunst darauf?

„Internationale Freundschaft“, Ausschnitt einer Briefmarke aus der Sowjetunion von 1960 Foto: mauritius images

Es ist Krieg in der Ukraine und wir streiten uns über Kunst. Und dies auch völlig zu Recht. Denn über den Bereich der Kunst werden in bürgerlichen Gesellschaften von jeher Deutungshoheiten und ideelle Hegemonien verhandelt. Im Frieden wie auch im Krieg. Im Anschluss an die höfischen und religiösen Systeme hatte dies insbesondere der Staat gewordene Kommunismus verstanden und sich zunutze gemacht.

Der Stalinismus unterwarf das Streben nach einer autonomen künstlerischen Sphäre (auf den von ihm kontrollierten Territorien) seinem totalitären Machtanspruch und intervenierte zugleich propagandistisch geschickt in die bürgerlichen Gesellschaften des Westens. Er beanspruchte dort seinerseits ein Recht auf Kunst- und Meinungsfreiheit, predigte den „proletarischen Interna­tio­nalismus“, um so mit der pervertierten Freiheitsidee Kräfte für sein riesiges Moskauer Kolonialreich zu sammeln.

Den im Namen eines proletarischen Kollektivs rigide und universell vorgetragenen Führungsanspruch der kommunistischen Parteien widersetzten sich weltweit ab den 1920er Jahren viele Kunstschaffende.

Sie wollten sich diesen und anderen Zumutungen aus der Politik nicht beugen, sie wurden ja nicht nur vonseiten des autoritären Kommunismus bedrängt. Nützlichkeitserwägungen, politische Auftragswerke, aber auch kultisch wirkende Markt- und Genie-Inszenierungen wies der emanzipatorische Teil der (linken) Kunstszenen von sich.

Wahre Kollektivität

Die historischen Avantgarden (Dadaismus, Surrealismus, Situationismus etc.) setzten (wie auch später Hippies, Punks oder Poplinke) dabei häufig auf Zertrümmerung zu einfach lesender, „affirmativer“ Kunstsprachen. Sie förderten einen voluntaristischen Subjektivismus, radikale Individualität als Grundlage wahrer Kollektivität und hedonistischer Lebensweisen.

Ihre Ausdrucksformen waren von Negation, Abstraktion und Erweiterung geprägt, dem Wechselspiel eindeutiger mit mehrdeutiger Symbolik, die sich nicht eins zu eins für autoritäre politische Propaganda gebrauchen ließen – und zumindest temporär auch nicht für die kapitalistischen Warenkreisläufe.

Wer in der Kunst nur nach Motiven der postkolonialen Kritik sucht, dürfte an dieser erblinden

Diese Kunstszenen konnten, so es sein musste, auch im politischen Sinne radikal und parteiisch auftreten, auch parolenhaft (etwa bei der Abwehr der Konterrevolution in der Weimarer Republik, den Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten und Anarchisten während des Spanischen Bürgerkriegs oder auch bei Revolten wie dem Pariser Mai 1968).

Künstler oder Untertan?

Doch bestand die Kunst auch immer darin, sich in der Kunst nicht dauerhaft und einzig auf eine erwartbare grammatikalisch formelhafte Äußerung oder gar Herkunft festlegen zu lassen. „Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann.“ So ein Slogan aus dadaistischer Zeit.

Neben dem „proletarischen Internationalismus“ war die andere große Propagandalüge des Staat gewordenen Kommunismus die von der großen Liebe unter den sozialistischen „Brudervölkern“. Freundlich und familiär sollte eine weltumspannende Imperiumsidee klingen, bei der man jedoch die expansive Tradition des Zarismus fortsetzte und die indigenen Völker erdrückte.

Das russische und später sowjetische Kolonialregime reichte im Fernen Osten bis nach Japan und China, im Westen bis über Polen hinweg, im Süden ans Schwarze oder Kaspische Meer. Nation um Nation wurde kolonisiert – oder wie in der Ukraine derzeit massakriert.

Postkoloniale Behauptungen

Für die Kunst seien „nur die anti- und dekolonialen Inhalte heute neu und relevant“, formulierte Diedrich Diederichsen kürzlich en passant in einer Buchkritik für die Süddeutsche Zeitung. Diederichsen, heute Kunstprofessor in Wien, früher Pionier der deutschen Popkritik, klingt in solch apodiktischen Sätzen ein wenig nach dem Politkommissar alter Schule. Zumal er beim künstlerischen Dekolonisieren ausschließlich den Blick gegen den alten und heute demokratischen Westen richtet.

Ganz so, als wären die außer(west)europäischen Nationen ihrerseits nicht zu imperialer Herrschaft, Kolonisierung und Völkermord fähig – und fähig gewesen. Und ganz so, als hätte sich die kritische Kunstproduktion erneut einem einzigen behaupteten Kollektivgedanken zu fügen, hinter dem andere Positionen und Widersprüche als nebensächlich verschwänden.

Der Übergang vom proletarischen zum postkolonialen Internationalismus scheint 30 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion für Teile des Kunst­betriebs sehr attraktiv zu sein. Man gibt sich dabei zunehmend unhinter­fragbar. Im Vorfeld der documenta15 kam die Diskussion auf, ob der documenta-Beirat und das von ihm ausgewählte indonesische Kuratorenteam Ruangrupa BDS-nah seien, damit auch antisemitische Positionen auf der Kunstschau zu erwarten sind.

Die BDS-Kampagne versucht seit Jahren Israel durch kulturelle Boykotte zu delegitimieren, sie wurde in einer Resolution des Deutschen Bundestags als antisemitisch eingestuft.

Antiisraelische Mobilisierung

Die documenta und mit ihr verbundene Journalisten wiesen die Kritik sogleich als „islamophob“ zurück. Hinweise, das zur documenta15 eingeladene palästinensische Kollektiv „The Question of Funding“ um Lara Khaldi und Yazan Khalili, frühere Funktionäre des Khalil Sakakini Cultural Center in Ramallah, agiere antiisraelisch, tat man als rassistisch ab.

Von Khalili finden sich Arbeiten im Netz wie „Apartheid Monochromes“. Sechs monochrome Farbtafeln, ganz nach Yves Klein, aber, wie tricky, im Subtext farblich der israelischen Repression zugeordnet, begrifflich dem früheren südafrikanischen Rassistenstaat. Nach der Kritik wurde die Repräsentanz für die documenta15 nun etwas verändert. Ein Künstlerkollektiv namens Eltiqa aus dem von der faschistischen Hamas kontrollierten Gazastreifen soll es nun richten.

Die Israel-Denunziation ist ein Fixpunkt vieler sich postkolonial begreifender Kunstfunktionäre und -szenen. Dabei ist Israel die einzige funktionierende Demokratie im Nahen Osten, mit Bürgerrechten für Minderheiten, von denen die Bevölkerungen arabischer oder islamischer Staaten nur träumen können.

Israel zieht notorisch die Feindschaft von undemokratischen Regimen auf sich, die auch den völkischen palästinensischen Extremismus finanzieren und munitionieren. An die verlorenen arabischen Angriffskriege, in denen man sich selber als unschuldiges Opfer sieht, erinnern Kultureinrichtungen, die nach rechten panarabischen Ideologen wie Sakakini benannt sind.

Völkischer Opportunismus

Im Kontext Palästinas kann eine kritische Kunst aber nur eine sein, die sich dem völkisch-religiösen Paradigma des Befreiungs­nationalismus widersetzt. Und nicht eine, die bildnerisch den äußeren Feind anklagt und von den eigenen Defiziten ablenkt.

Die politische Haltung sollte sich keineswegs immer eins zu eins in der Kunst abbilden. Siehe Sozialistischer Realismus. Genauso wenig lassen sich Debatten über das System Kunst unisono international vereinheitlichen.

In Teilen Indonesiens, des Herkunftslands des documenta-Kuratorenteams, herrscht beispielsweise die Scharia, aufgeklärte städtische Lebensweisen stehen unter Druck. Einen Wohlfahrtsstaat oder entwickelten Kunstmarkt gibt es nicht.

Auch keine kollektive Erinnerungskultur, die an den Völkermord an der chinesischstämmigen Minderheit erinnern würde. Das postkoloniale Suharto-Regime ließ 1965/66 Hunderttausende (Schätzungen sprechen von bis zu drei Millionen Menschen) systematisch ermorden.

Solidarität mit der Ukraine?

Minderheiten- und Bürgerrechtskämpfe in demokratischen Gesellschaften wie den USA, Israel oder der Bundesrepublik sehen anders aus als jene in Gaza, Iran, Syrien, Namibia oder Indonesien. Wer in der Kunst aber nur nach Motiven der postkolonialen Kritik sucht, dürfte an dieser erblinden.

Und auch keinen Blick dafür haben, was gerade in der Welt und in der Ukraine passiert. Auffällig viele postkoloniale Staaten enthielten sich wie China bei der Abstimmung der UN-Resolution zur Verurteilung des russischen Angriffskrieges.

Wer auf der documenta15 durch die Kunst unmittelbar politisch spricht, wird sich an der politischen Weltlage messen lassen müssen.

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7 Kommentare

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  • Postkolonialismusbashinng macht falsche Fakten auch nicht besser: Die absurde Genealogie vom proletarischen Internationalismus zum Postkolonialismus spricht für sich selbst (Lenin, der Theoretiker der Zentralherrschaft als Urahn von Homi Bhaba (dem Theoretiker von Hybridität und dritten Räumen, darauf muss man erstmal kommen).



    Nur ein paar Fakten, zu dem was behauptet wird.



    1.Indonesien hätte „auch keine kollektive Erinnerungskultur, die an den Völkermord an der chinesischstämmigen Minderheit erinnern würde. Das postkoloniale Suharto-Regime ließ 1965/66 Hunderttausende ... systematisch ermorden.“



    Es ist unklar, was mit dem Völkermord an der chinesischstämmigen Minderheit gemeint ist – die antichinesischen Pogrome im Unabhängigkeitskrieg um 1948? Die waren schrecklich, sind aber nicht mit einem Völkermord gleichzusetzen, wenn man den Begriff nicht trivialisieren will. Das Suharto-Regime war neokolonial, nicht postkolonial, es wurde mithilfe westlicher Kräfte (u.a. des BND) etabliert und lehnte sich eng an den ‚Westen‘ an. Der Massenmord wurde an Linken und KommunistInnen aller Ethnien verübt und die Morde wurden unter der Suharto-Diktatur jahrzehntelang gezielt fortgesetzt. Diese Geschichte, an der Deutschland eine gewisse Mitverantwortung trifft, ist hier immer noch nicht aufgearbeitet worden.



    2.Das KuratorInnenteam in einem Satz mit der Scharia in Verbindung zu bringen, ist infam. Genausogut kann man die queeren Künstler in Deutschland mit der Pegida oder mit Scharia-Tendenzen zusammenbringen, alles im gleichen Land... Die Scharia gilt in Aceh, Nordsumatra.



    Irritierend ist diese Unkenntnis, weil die säkularen Kräfte und der tolerante mystizistische Islam in Indonesien einen schweren Abwehrkampf gegen islamistische Strömungen führen. Nach der Homepage wurde ich das KuratorInnenteam den säkularen Kreise zuordnen.



    Man sieht da auch, dass da spannendes kommen könnte



    lumbung.space

  • Leider lässt sich dieser Satz ziemlich wörtlich auch anders formulieren: "Im Kontext Palästinas (Israels) kann eine kritische Kunst aber nur eine sein, die sich dem völkisch-religiösen Paradigma des Befreiungs­nationalismus (der Siedlungspolitik) widersetzt. Und nicht eine, die bildnerisch den äußeren Feind anklagt und von den eigenen Defiziten ablenkt."

    Die hier im Artikel angewendete grundsätzliche Kritik an anti- und dekolonialen Ansätzen auf der Basis einer universalen eurozentrischen Weltsicht zeigt leider auch, dass man auf Deutungshoheiten pocht anstatt sich auf eine Diskurs einzulassen.



    Zu den bisher abgesagten Veranstaltungen der Dokumenta aufgrund pauschalisierender Kritik (und Deutungshoheit) gehört übrigens auch eine Diskussionsrunde in der der Israelstämmige Archtiekt Eyal Weizman eingeladen war.

    Dass die einseitige unnd nicht hinterfragte Polemisierung, die derzeit rund um die Dokumenta ausgetragen wird hier in der taz fortgeführt wird, finde ich höchst irritierend.

    Hier ist nix Dada und der Kopf darf wohl nur in eine Richtung denken!

  • In der besagten Rezension hatte ich ein Buch besprochen, das die These vertritt, der zugrunde gegangenen autonomen Kunst würden zwei gleich wichtige Praktiken folgen: dekolonialer Aktivismus sowie digitale und Giftshop-Spielzeuge für alle. Dieser These habe ich widersprochen (alle mögliche Kunst in unterschiedlichen Autonomiegraden ist von Belang und nicht untergegangen) und dann konzediert, dass von den zwei vom Autor behaupteten, nachautonomen Künsten eine "neu und relevant" ist (die dekoloniale/aktivistische). Daraus zu machen, ich hätte selbst die These aufgestellt, nur und ausschließlich eine dekoloniale Kunst sei noch relevant (vom Westen oder seinem Gegenteil steht im ganzen Text eh kein Wort), ist schon gezielt bösartig und manipulativ.

  • Bezüglich der Angaben zu Indonesien als Herkunftsland des Kuratorenteams:

    1. "In Teilen Indonesiens [...] herrscht beispielsweise die Scharia."



    Richtig, in der Provinz Aceh. Man sollte aber darauf hinweisen, dass dies nur eine von 34 Provinzen ist und mit dem Kuratorenteam aus dem ca. 1.800 km entfernten Jakarta politisch und kulturell wenig zu tun hat.

    2. "Einen [...] entwickelten Kunstmarkt gibt es nicht."



    Das ist wohl Ansichtssache - oder eine Frage, wie weit man sich mit dem Land und seiner Kunst befasst.

    3. "Völkermord an der chinesischstämmigen Minderheit"



    Die Massaker von 1965/66 richteten sich gegen (auch nur angebliche) Kommunisten, darunter z.B. die Mitglieder des kommunistisch geprägten LEKRA ("Institut der Volkskunst"). Ethnisch waren diese Opfer in der Mehrzahl Javaner. Chinesischstämmige Indonesier wurden und werden bis heute diskriminiert - die Massaker von 1965/66 aber als einen ethnisch basierten Völkermord an Chinesen zu beschreiben ist schlichtweg falsch.

  • Internationale Solidarität als Ideologie des Kommunismus zu dekonstruieren ist eine gedankliche Leistung, die einen auch befähigen sollte, sie auf den ,,heute demokratischen Westen'' anzuwenden. Es sei denn man ist eben eher ein Apologet desselben.

    Eine so starke affirmative Haltung (dem Kapitalismus gegenüber, der die Demokratie als ,,Schmierfett" benutzt) haben aber selbst die ,,historischen Avantgarden" nicht verdient (der ,,voluntaristische[n] Subjektivismus, radikale Individualität als Grundlage wahrer Kollektivität und hedonistischer Lebensweisen"), auch wenn sie nach der Phase der Subversivität immer vom kapitalistischen System aufgesogen und zum Mainstream gemacht wurden.

  • Spannender Artikel.

    So eine lahme Überschrift hat er nicht verdient.

    Ich hätte ihn fast nicht gelesen.

  • Ui, das wird Ärger geben…