Ukraine gewinnt den ESC in Turin: Mehr als eurovisionärer Gratissoli
Die Volxabstimmung rettete den Abend und kürte das Kalush Orchestra zum Gewinner des ESC. Schöne Pointe eines unterhaltsamen Abends.
Und da tröpfelte es im Hinblick auf das einzige Ziel des ukrainischen Kalush Orchestra bei diesem ESC doch eher gemächlich. So richtig sah das nicht nach erfüllter Mission aus: dem dritten ESC-Sieg für dieses Land, einem Sieg im Zeichen des russischen Angriffskriegs gegen die seit den frühen Neunzigern Abtrünnigen aus dem russischen Imperium. In Führung: exzellenter, aber eben doch nur Standardpop aus Großbritannien, Spanien und Schweden. Es hatte ja auch noch nie ein Rap bei einem ESC gewonnen, aber waren die Jurys, abgesehen von denen aus dem Baltikum, aus Polen und Moldau, wirklich so herzenskalt, den für die Ukraine so wichtigen Gewinn zu verweigern?
Als wärs aus einem ziemlich perfekten Drehbuch des Märchens vom Phönix aus der Asche, kam es doch noch ganz anders, die Gesichter von Oleh Psyuk (der mit dem filzigen Anglerhut), Ihor Didenchuk, Vlad Kurochka, Tymofii Muzychuk, Vitalii Duzhyk, Dhhonni Dyvnyy und Sasha Tab hellten sich nicht nur auf, sie sahen wie nach einer großen Anstrengung zwar erschöpft, aber zufrieden, ja glücklich aus: Als die Moderator*innen Laura Pausini (grandios, 14 Kleiderwechsel!), Mika (5 Outfitwechsel) und Alessandro Cattelan das Bündel der Televotenden, der europäischen Volxabstimmung verkündeten: 439 Punkte – von 468 möglichen Zählern.
„Stefania“, korrekter: die Ukraine erhielt aus allen Ländern Höchstwertungen, die meisten „Douze Points“, auch aus Putin ambivalent gegenüberstehenden Ländern wie Israel und Aserbaidschan, selbst Serbien mit dem niedrigsten Wert für das Kalush Orchestra erkannte die Ukraine mit sieben Punkten an. Mit anderen Worten: So sehr die Jurys vor sich hin geschmäcklerten und sehr oft an Publikumsfavourites vorbeihörten, so sehr rettete die Volxabstimmung die Atmosphäre der Herzen auch in Turin. Jubel, Ergriffenheit bei der Ukraine, später Glückwünsche vom Präsidenten, Hugs per SMS durch die Mutter, die „Stefania“ heißt, ihr war der Ethno-Rap ja auch gewidmet, und vielen Freunden.
1. Ukraine: Kalush Orchestra – Stefania (631 Punkte)
2. Großbritannien: Sam Ryder – Space Man (466)
3. Spanien: Chanel – SloMo (459)
4. Schweden: Cornelia Jakobs – Hold Me Closer (438)
5. Serbien: Konstrakta – In Corpore Sano (312)
6. Italien: Mahmood & Blanco – Brividi (268)
7. Moldau: Zdob și Zdub & Advahov Brothers – Trenulețul (253)
8. Griechenland: Amanda Georgiadi Tenfjord – Die Together (215)
9. Portugal: Maro – Saudade Saudade (207)
10. Norwegen: Subwoolfer – Give That Wolf A Banana (182)
(…)
25. Deutschland: Malik Harris – Rockstars (6)
Das Lied war einfach gut und sympathisch
Und es war ja auch nicht so, dass die Ukraine aus treudoofer, schlafschafiger und eurovisionärer Gratissoli gewonnen hätte – schon vor dem 24. Februar war ihr Lied mit der in dystopischen Zeiten gültigen Zeile „I’ll always find my way home, even if all roads are destroyed“ aktuell interpretiert worden und lag in den europäischen Wettbüros immer weit oben. Das Lied ist einfach gut, moderner Seitenmainstream, sympathisch, eher bescheiden in der Performance – nichts von der Perfektion etwa des Briten Sam Riley mit der Freddie-Mercury-haften Stimme und dem Titel „Space Man“, der Spanierin Chanel und ihrem einschüchternd perfekten Tanzgesangsvortrag mit „SloMo“ (und, nein, so war es keineswegs) und der Schwedin Cornelia Jakobs mit „Hold Me Closer“, einem funkelnden Stück aus schwedischer Popindustrieproduktion. Die Ukrainer siegten beim Contestvoting der Herzen, und das war eine erwartete, dennoch schöne Pointe des über vier Stunden kurzen Abends.
Was war das für eine Propagandaschau des modernen Selbstverständnisses von Europa: Inklusiv, hassfrei, queer, ästhetisch durchaus sammelsurisch, antidiskriminierend, einladend und frisch. Da sah man eine Valeska-Gert-hafte, durchweg surreal agierende Serbin namens Konstrukta, die die Jurys nicht mochten, aber die Volxabstimmenden mit Liebe, eben: Stimmen fast so wie das Kalush Orchestra überhäuften. Sie wusch sich drei Minuten lang in einer Schüssel die Hände – das war auch lustig, klar, doch in erster Linie glaubwürdig, warum auch immer. Kurzum: Man schwamm in einer Bilderflut mal mehr, mal größerer Erbaulichkeit. Ergreifend zu sehen, wie viele Künstler*innen performten, weil sie es, als Queers, als missachtete Undergroundkünstlerinnen oder People of Colour als Chance ihres Lebens mit more or less souveräner Lust zu nehmen wussten.
Angenehmerweise hetzte der gastgebende Sender RAI offenbar auch nicht durch ein Programm, das auch in der Länge Opulenz verdient. Drei Stunden wie früher? Mehr ist mehr, länger ist besser: Angenehm, wie die Wertungszeremonie allen zugeschalteten Moderator*innen Raum für ihren Dank und ihre Späßchen gab – ist ja nur einmal, warum Hetze? Und dann die Lust der Kameras am Blick in die Zuschauerränge. Männer schwuler Art rudelweise, einige trans Menschen, Drag Queens, anders als früher aber ebenso viele kundige, enthusiasmierte Frauen, die dieses Hochamt der Selbsteuropäisierung offenbar feierten, mithin: sich feierten. Schöne Zeichen, die zu sehen waren, im Überfluss, man ist einfach offenbar sehr gern das, was Wladimir Putin im Hass „Gayropa“ nennt: divers und politisch wach in einem.
Wo findet das Finale nächstes Jahr statt?
Bei der Siegesmedienkonferenz danach, aber schon vorher als Geraune zu hören, wollte man wissen, ob denn die Ukraine nächstes Jahr, wie es Pflicht für Gewinnerländer ist, den ESC ausrichten werde. Stockholms Bürgermeisterin bot exilische Hilfe an, auch aus Polen waren gütige Stimmen zu hören, man könne das doch in Warschau oder … Nein, sagte Oksana Skybinska, wir werden den nächsten ESC ausrichten. Man muss ihre Worte unbedingt ernst nehmen. Wer die Ukraine kennt, wer den „Wollen wir doch mal sehen“-Ehrgeiz von Wolodymyr Selenskyj kennt, weiß: Die überdachen in fünf Monaten das Olympiastadion von Kiew und machen die Chose dort – wohin auch Selenskyj bei der Präsidentschaftswahl seinen Vorgänger Petro Poroschenko lud und die Debatte gewann.
Und die Deutschen? Wurden mal wieder Letzte. Malik Harris und sein „Rockstars“ bekam nur je zwei Punkte aus Österreich, der Schweiz und Estland. Eine lichtschluckende Show, gemessen an den anderen Performances provinziell. Deutschland ist einfach nicht cool im Pop, mutlos, risikoscheu und – das vor allem ist bedauerlich – Talente wie den jungen Bayern verheizend. Dazu passt, dass ARD-Kommentator Peter Urban im italienischen Lied von Mahmood und Blanco („Brividi“) den textlich geäußerten Liebesschmerz – hier: bei einem offenkundig schwulen Paar – nicht zu erkennen vermochte und von einem Lied zweier Brüder sprach. Geht noch mehr alle Sagbarkeit missachtende Bratenrockhaftigkeit?
Immerhin, Trost für die ARD: Zwei Drittel aller jungen Zuschauer bis 29 Jahre guckten den ESC – sie werden sich mit der Piefigkeit der ARD-ESC-Gewohnheiten nicht mehr lange zufriedengeben wollen. It’s Europe, stupids!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod
Protest in Unterwäsche im Iran
Die laute Haut
Geschlechtsidentität im Gesetz
Esoterische Vorstellung
Krise der Ampel
Lindner spielt das Angsthasenspiel