piwik no script img

Rudolf Steiner für ukrainische Kinder

Die ukrainische Journalistin Yuliia Marushko hat vor Jahren in ihrer Heimatstadt Lutsk in der Westukraine eine Waldorfinitiative gegründet, 2012 ist sie nach Deutschland gezogen. Jetzt hat sie Kinder und Lehrende nach Hamburg-Bergstedt geholt

Idealistisch und angstfrei: Yuliia Marushko Foto: Waldorf­initiative Lutsk

Von Kevin Goonewardena

Wir schreiben den 16. März 2015, die Ukraine steckt im Krieg, den die europäische Öffentlichkeit noch Krim-Krise nennen soll. Um 3.48 Uhr vermelden offizielle ukrainische Stellen den Tod des ukrainischen Waldorf-Pioniers. Wolodymyr Kochetkow-Sukach, Spitzname „Chewbacca“, Vater von vier Kindern und ukrainischer Freiwilliger, wurde nur 43 Jahre alt.

Er starb durch eine Sprengmine nahe Krasnohoriwk in der Oblast Donez. Dass der hünenhafte Mann, der wegen seines rotbraunen Barts den Namen des treuen Begleiters Han Solos aus der „Star Wars“-Reihe verpasst bekam, in den Neunzigern die treibende Kraft der damals entstehenden ukrainischen Waldorfbewegung war, schrieb der Nationale Sicherheits- und Verteidigungsrat damals nicht.

Denn Kochetkow-Sukach war zugleich Gründer der Freiwilligeneinheit Aerorozvidka, die auch 2022 an den Kämpfen beteiligt ist. Lange vor deren Gründung studierte Kochetkow-Sukach Waldorfpädagogik in der Schweiz und trieb im Anschluss daran maßgeblich deren Ausbreitung in der Ukraine voran.

„Stupeni“, die erste Waldorfschule des Landes, wurde im Jahr 1993 in Odessa durch eine Gruppe Eltern gegründet. Fünf Jahre später folgte vor allem auf Kochetkow-Sukachs Betreiben hin die Eröffnung der ersten anthroposophischen Bildungseinrichtung in der ukrainischen Hauptstadt Kiew.

Vier Waldorfschulen gibt es inzwischen in der Ukraine. Zum Vergleich: Allein in Hamburg sind es sieben allgemeinbildende Waldorfschulen. Eine davon ist die Rudolf-Steiner-Schule in Bergstedt. Dort arbeitet Yuliia Marushko, Journalistin, Künstlerin, Märchenerzählerin, Waldorf-Lehrerin, Aktivistin und jetzt „eine müde Frau aus der Ukraine, die doch noch was hält, um weiterzumachen“.

Erst vor wenigen Wochen ist es ihr gemeinsam mit den Lehrkräften und Eltern gelungen, viele Kinder aus der von ihr initiierten Waldorfinitiative in ihrer Heimatstadt Lutsk nach Hamburg zu evakuieren. Die Kinder und ein Teil der Leh­re­r*in­nen leben nun bei Gastfamilien und setzen ihren Schulbesuch an der Bergstedter Rudolf-Steiner-Schule fort. „Ein Kollege hat sechs Ukrai­ne­r*in­nen aufgenommen und jetzt 41 Kinder in seiner Klasse“, erzählt sie. Insgesamt betreuen Yuliia Marushko und ihre Mit­strei­te­r*in­nen in Bergstedt 50 Personen aus der Waldorfinitiative Lutsk, aber auch einige aus Kiew sind darunter.

Sitzt man ihr gegenüber, ist von Müdigkeit nichts zu spüren. „Wir haben keine Angst zu sterben. Die Putin-Ära ist vorbei“, gibt sich die 42-Jährige selbstbewusst. Knallbunt gekleidet, mit Lach-, statt Sorgenfalten um die Augen erzählt Yuliia Marushko von ihrem Weg, der sie von Lutsk an die Waldorfschule in Bergstedt geführt hat – und von der Anthroposophie als Schlüssel der großen Veränderung nicht nur in ihrem persönlichen Leben.

Die ausgebildete Journalistin hat ab 2003 zunächst beim Lokalradio ihrer Heimatstadt gearbeitet, später bei „Nashe Radio“ in Kiew. Marushko spricht davon, dass sie eine goldene Stimme gehabt habe, dass sie berühmt und vor allem sehr glücklich gewesen sei.

Ihre Arbeit wurde mit einem Stipendium für Jour­na­lis­t*in­nen aus Osteuropa der Freien Universität Berlin belohnt. Im Jahr 2008 zog sie für wenige Monate in die deutsche Hauptstadt. Trotz oder gerade wegen des beruflichen Erfolgs „habe ich mich gefragt, was ich für mein Land tun kann. Ich wusste nicht was, nur dass ich etwas ändern will“.

Zurück in der Ukraine, kam sie am Kiewer Goethe-Institut erstmals mit der anthroposophischen Lehre Rudolf Steiners in Berührung. Die für sie neue Waldorfpädagogik und ihre eigenen Erfahrungen im sowjetischen Bildungssystem trafen aufeinander, zugleich fielen die neuen Erkenntnisse in einen Zeitraum des Wunsches nach beruflicher Veränderung auch für Marushko selbst.

„Im sowjetischen Schulsystem wurden Kinder wie Erwachsene behandelt. Das ist auch heute noch so. Einen über die physische Existenz hinausgehenden Körper gibt es nicht, für Seele und Geist ist in dem System kein Platz“, wurde ihr klar.

Seit 2014 sind Waldorfschulen in der Ukraine offiziell anerkannt

Rudolf Steiners Lehre dagegen ist nicht nur für Marushko mehr als das vermeintlich bessere Konzept, es ist vor allem eine Alternative in einem post-sowjetischen Land, in dem es keine Optionen gibt.

Also vertiefte sie ihr Wissen in Waldorfseminaren und lernte Gleichgesinnte kennen, „die aus ganz unterschiedlichen Richtungen kamen“. Schlagworte wie Klimaschutz, das Miteinander und biodynamische Landwirtschaft fielen, Begriffe, die damals in Lutsk niemand kannte. Dazu gehörte auch der Name Steiners, der auch vielen späteren Mit­strei­te­r*in­nen bis dato unbekannt war. Gelebt wurden anthroposophische Werte jedoch unbewusst schon im Ansatz.

Seit 2012 lebt Marushko nun durchgehend in Deutschland. In Kassel ließ sie sich zur Waldorfpädagogin ausbilden, zog im Jahr 2014 nach Hamburg. Obwohl auch der Bildungssektor der Ukraine den höchsten Korruptionsindex Europas aufwies und Reformen zumeist wirkungslos verpufften, erlangte Waldorf in der Ukraine 2014 den Status als Alternativpäda­gogik und ist seitdem offiziell anerkannt. Trotz Bezuschussung durch den Staat bleiben die meisten Schulen und Projekte jedoch privat finanziert und halten sich daher oft nicht lange.

Die Ukrai­ne­r*in­nen in Bergstedt stammen auch aus der Waldorfinitiative Lutsk, die Marushko 2015 ins Leben rief. Dem Vereinsstart durch 12 Grün­de­r*in­nen folgte ein erster Kindergarten, dann ein zweiter, 2020 die erste Klasse, ein Jahr später eine weitere, erzählt Marushko. Das nächste Ziel sei es, in Lutsk ein eigenes Schulgebäude zu bauen. Denn unterrichtet werden die Kinder zurzeit noch in Räumlichkeiten, die die Universität Lutsk zur Verfügung stellt.

Der Krieg und dessen Nachwirkungen machen Marushko keine Sorgen im Hinblick auf die Entwicklung der Lutsker-Schule. “Alle wollen am ersten Tag zurück. Niemand hat gesagt, dass er hier bleiben will.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen