Festival an der Schaubühne Berlin: Zentrum für Trost und Sorge
Die Schaubühne Berlin hat für das Festival FIND Gastspiele aus den USA, Frankreich und Chile eingeladen. Es geht um Polizei-Gewalt, Schmerz und Trauer.
Man sitzt in diesen Tagen anders im Theater. Vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine verändert sich, was einen von der Bühne aus erreicht und berührt. Eine Spannung ist da, die erst überwunden werden muss, und eine Dünnhäutigkeit.
Bilder von Grausamkeit und Folter, wie sie das Teatro La Re-sentida aus Santiago de Chile in einem Tanztheaterstück über Disziplinierung, Gruppenzwang und Demütigung nutzen, lassen sich schwer ertragen und die Gedanken schweifen voll Schrecken ab zu Bildern von den Toten des realen Krieges. Szenen der Gemeinschaft, von Trost und Unterstützung der von Verlusten Getroffenen, wie sie im Mittelpunkt des Stücks „Fraternité, Conte fantastique“ der französischen Theatermacherin Caroline Guiela Nguyen stehen, erinnern an das hilfesuchende Zusammenrücken der Menschen in der Ukraine in den angegriffenen Städten.
So wird einerseits zwar der Aspekt der Universalität gestärkt, den das Theater behauptet – andererseits relativiert sich ständig, was in der Kunst als Bedeutung durchdringt.
Keine leichten Zeiten also für Theater. Das Festival Internationale Neue Dramatik, zu dem die Schaubühne in Berlin seit 2000 einlädt und in dessen aktueller Ausgabe (noch bis 10. April) die oben genannten Produktionen zu sehen waren, kann zwar endlich wieder live stattfinden nach pandemiebedingten Absagen. Aber Festivalstimmung geht diesmal nicht. Nach jeder Vorstellung werden Spenden gesammelt, abwechselnd für eine Frauentheatergruppe aus Afghanistan und eine Gruppe aus der Ukraine.
Festival Internationale Neue Dramatik 2022. Noch bis zum bis 10. April zu sehen in der Berliner Schaubühne.
Finster ist das Bild der Gesellschaft, das das Teatro La Re-sentida in „Oasis de la Imprunidad“ (Deutsch: „Oase der Straffreiheit“) zeichnet. Schmächtige und groteske Gestalten, mit zu großen Ohren und zu kleinen Schuluniformen, durchlaufen ein Training der Grausamkeit. Im Paartanz reißen sie sich an den Haaren, üben Foltergriffe am eigenen entblößten Körper, sind jederzeit zu Spott, Verrat und Opferung dessen bereit, der aus den Spielen der Demütigung ausscheren will. Das ist inszeniert von Marco Layera wie ein Karneval; aber hinter den unter Zwang angenommenen Rollen gibt es keine andere Identität, keinen Ort des Rückzugs mehr.
Geschlossener Raum
Layeras Bilder sind drastisch, man kann sie auf die Vergangenheit Chiles in der Pinochet-Diktatur beziehen oder auf Systeme der Unterdrückung allgemein. Aber die Szenen bleiben grobe Karikaturen, ohne Ansatz, wie sich eine Perspektive ändern könnte. Es sind Bilder aus einem geschlossenen Raum.
Von einer Vielzahl der Perspektiven, vom Nachzeichnen vieler Konturen, die einen Unterschied machen, lebt dagegen das Solostück der Schauspielerin und Autorin Dael Orlandersmith aus der US-Metropole St. Louis, „Until the Flood“. In Ferguson, der Vorstadt von St. Louis, in der im August 2014 der schwarze Teenager Michael Brown von dem weißen Polizisten Darren Wilson erschossen wurde, hat sie Interviews geführt und daraus acht Charaktere geformt, deren Gedanken über die tödlichen Schüsse wir hören und wie ihr Leben sich seitdem verändert hat.
Da gibt es den 17-jährigen Paul, der im gleichen Sozialwohnungsblock wie Michael Brown lebt und Angst hat, wenn er mit Freunden draußen ist. Er zählt die Tage, bis er weg kann, zum Studium in Berkeley und hofft, dass er es schafft. Ein alter schwarzer Friseur nimmt Gestalt an, Reuben, der sich gegen die Vereinnahmung als Opfer wehrt durch junge naive Frauen, weil er schwarz und arm sei.
Eine pensionierte Lehrerin denkt über ihre Jahrzehnte der Kämpfe nach, die öffentlichen, gegen Rassismus, aber auch die in der Familie, weil sie sich in der Jugend der Angepasstheit ihres Vaters schämte und später mit dieser Verurteilung hadert.
Kult des Männlichen
Orlandersmith’ Protagonist:innen, in die sie sich ohne großes Aufheben verwandelt, sind schwarz, weiß, jung, alt, männlich und weiblich. Auffallend ist, dass sie mit einigen ihrer Stimmen beide jungen Männer, den Erschossenen und den Schützen, als Produkte eines Systems sieht, das in einem Kult des Männlichen feststeckt.
Selten gelingt es einem Theaterstück in knapp 70 Minuten so gut, den Raum des Nachdenkens, für den Blick in die Geschichte, für eine Auseinandersetzung mit Rassismus so sensibel zu öffnen. Die vielfach mit Preisen ausgezeichnete Theatermacherin Orlandersmith hat mit „Until the Flood“, mit dem sie schon viel in den USA getourt ist, dem Festival FIND einen Höhepunkt beschert.
Essenspakete für Einsame
Die Inszenierung „Fraternité, Conte fantastique“ aus Frankreich spielt in einem Zentrum für Trost und Sorge. Immer wieder wird der Tisch gedeckt, werden Essenspakete für Einsame gepackt, Botschaften an vermisste Menschen in den Äther gesandt. Es macht Freude, dem Cast der Inszenierung, Schauspieler und Laien, beim Herumwuseln, Trösten, Diskutieren zuzusehen. Sie reden französisch, englisch, vietnamesisch und arabisch, teils ist die Übersetzung als hilfreiche Geste teil des Spiels, teils leistet sie die Übertitelung. Dieser Mehrsprachigkeit so einfach folgen zu können, hat utopisches Potenzial.
Ebenso, wie soziale Grenzen in dieser Gruppe überwunden sind. Doch was sie zusammenhält, ist der Schmerz, alle haben – und hier beginnt das Fantastische und leider Wabernde der Geschichte – Angehörige bei einer Sonnenfinsternis verloren. Ihre Herzen, schwer von Trauer, schlagen verlangsamt, und geheimnisvoll ans Universum gekoppelt nimmt auch die Bewegung der Planeten ab. Es läuft darauf hinaus, dass sich Menschen von ihren Erinnerungen trennen müssen, bevor Zukunft möglich scheint.
Diese überkonstruierte und letztendlich etwas therapeutisch orientierte Geschichte nimmt einen dann doch nicht über drei Stunden lang mit. Das ist schade, eigentlich hat die Regisseurin Caroline Guilea Nguyen mit dem Cast eine ideale Basis für ein Stück über die Herausforderungen der Gegenwart.
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