Theaterleiter über sein Haus in Mariupol: „Mein Lebenswerk ist zerstört“

Ende März brannte das „Teatromanyia“ in Mariupol nieder. Theaterleiter Anton Telbizov erzählt, was damit verloren gegangen ist – und was bleibt.

Ein Mann in gemustertem Wollpullover steht vor einem Haus

„Jetzt stehe ich vor dem Nichts. Buchstäblich“: Anton Telbizov, Theaterleiter aus Mariupol Foto: privat

„Ich mag in Mariupol am liebsten die Pommes mit Käsesoße und das Café direkt am Meer.“ Das ist eine lässige Liebeserklärung, die Anton Telbizov letztes Jahr ausgesprochen hat im „Hotel Continental“, der Spielstätte des Theaters „Teatromanyia“ in Mariupol, das er leitet.

Am 27. März, dem Welttheatertag, hörte man diese Worte auch in den Kammerspielen des Deutschen Theaters – in einer Aufzeichnung. „Ukrainische Stimmen für Mariupol“ nannte das Deutsche Theater den zweiten Solidaritätsabend, den das Haus nach Kriegsbeginn kurzfristig organisiert hatte. Am 16. April ist eine dritte Ausgabe geplant.

Letzten Sonntag waren Andrii Palatnji, der Leiter des Festivals Gogolfest in Mariupol, und Natalia Vorozhbyt, die Autorin des Donbass-Stücks „Bad Roads“ (das letzten Herbst zu Gast bei Radar Ost am DT war), zugeschaltet. Im Mittelpunkt aber stand das Theater „Teatromanyia“, dessen Leiter Anton Telbizov auf der Bühne in den Kammerspielen stand.

Und auch einige der KünsterInnen, mit denen er letztes Jahr als Regisseur zusammengearbeitet hat: Josie Dale-Jones aus London, Evan Kosmidis aus Athen und Christine Dissmann vom Ogalala-Theater in Berlin-Kreuzberg.

wurde 1985 in Kasachstan (Sowjetunion) geboren, 1988 Umzug in die Region Donezk. 2010 Hochschulabschluß an der Charkiwer Kotljarskij-Kunsthochschule. Seit 2005 hat er als Schauspieler in verschiedenen Theatern in Mariupol gespielt.

2011 wurde er Leiter des Theaterzirkels des städtischen Kulturhauses, aus dem das Theater „Teatromanyia hervorgegangen ist. In den Jahren von 2011 bis 2021 wurde das Theater jährlich von der Donezker Regionalverwaltung und der Stadt Mariupol für seine Arbeit ausgezeichnet. 2016 wurde das Theater „Teatromanyia“ sogar in die Reihe der Nationaltheater aufgenommen.

Die kurzen Videos, die insgesamt vier Projekte des „Teatromanyia“ vorstellten, sind Zeugnisse einer Zeit, in der Mariupol schon vom Krieg gezeichnet war, der seit der Annexion der Krim 2014 die Region Donezk beherrscht. „Acht Jahre Stress, acht Jahre Angst“, so beschreibt Anton Telbizov das Lebensgefühl der MariupolerInnen.

In einem Theaterprojekt, in dem es um die Aufarbeitung von Kriegstraumata geht, sagt ein etwa fünfzehnjähriger Junge: „Im Grunde spüre ich, dass ich auf einer tickenden Zeitbombe sitze. Aber Hauptsache, ich lebe.“

Telbizov bleibt auf der Bühne die Stimme weg, als er vom 24. März erzählt, dem Tag, an dem das Theater bis auf die Grundmauern niederbrannte. „Es reicht für uns UkrainerInnen nicht aus, das Leben [nach dem Krieg] neu zu beginnen, eigentlich müssten wir neu geboren werden“, ist sein Fazit.

Als der russisch-ukrainische Krieg ausbrach, war Anton Telbizov im Urlaub in Ägypten. Inzwischen ist er in Deutschland und hat die Nachricht erhalten, dass auch seine Wohnung nicht mehr existiert. Wir telefonieren per Videoschalte.

taz: Herr Telbizov, wie geht es Ihnen?

Anton Telbizov: Mein Lebenswerk ist zerstört. Ich war bis vor einem Monat der Leiter eines Theaters mit vierzig Schauspielenden. Das Theater „Teatromanyia“ ist mein Lebenswerk. Ich war 25, als ich es vor gut zehn Jahren gegründet habe: ein Laientheater, in dem die jüngsten Theaterschaffenden Jugendliche und die ältesten Darstellenden etwas über vierzig sind. Jeder ist willkommen und jeder soll sich bei uns unverfälscht zeigen können. 250 junge Menschen sind in den letzten zehn Jahren durch unsere „Theaterschule“ gegangen und viele studieren inzwischen an den angesehensten Kunsthochschulen des Landes. 2016 wurden wir sogar mit der Auszeichnung „Nationaltheater“ geehrt. Viele Fotos, viele Videoaufnahmen von unseren Inszenierungen waren auf meinem Laptop. Den hatte ich im Theater gelassen, als ich in den Urlaub nach Ägypten flog. Ich habe mich sicher gefühlt in Mariupol. Jetzt stehe ich vor dem Nichts. Buchstäblich.

Aber niemand wird Ihnen Ihre Erfahrung, Ihr Können und Ihre Erinnerung an viele wunderbare Momente im „Hotel Continental“ nehmen können! Ist Ihr Theater ein Hotel? Präziser gefragt: Warum heißt das Theater „Hotel Continental“?

Das Zentrum für zeitgenössische Kunst, das vor ein paar Jahren aus dem städtischen Kulturhaus hervorging, hat sein Domizil seit einigen Jahren im denkmalgeschützten ehemaligen Hotel Continental. „Teatromanyia“ ist ein Akteur des Zentrums und bespielte in dem Gebäude alles, was möglich ist: neben dem Saal sehr gern den Innenhof mit den Feuertreppen und mit Freude auch das Dach. Übrigens: In dem Gebäude war eine super Akustik! Jetzt gibt es das nicht mehr.

Die Aufzeichnung von Stay United#2 vom 27. März im Deutschen Theater ist auf Youtube zu sehen. Stay United#3 findet am 16. April im Deutschen Theater statt, Stay United#4, am 13. Mai.

„Teatromanyia“ ist seit 2016 „Nationaltheater“, eine hohe Auszeichnung in der Ukraine, besonders für ein so junges Theater. Was war der Grund für diese Ehre?

Im Jahr 2016 kam eine spezielle Kommission ins „Hotel Continental“ und hat sich unsere Produktionen angesehen. In dem Jahr zuvor hatten wir das Stück „Weg mit den Waffen“ entwickelt, das sich mit der Geschichte der kriegerischen Auseinandersetzungen vom Anfang der menschlichen Existenz bis heute befasst – und die dazugehörigen Waffen ins Visier nimmt. Als regieführender Theaterleiter geht es mir um ein Theater, das sich der großen Fragen annimmt. „Teatromanyia“ hat in den letzten Jahren nicht wenige Stückentwicklungen zu in Mariupol wichtigen Themen herausgebracht. So gibt es etwa Inszenierungen über häusliche Gewalt, Umweltverschmutzung, Vereinzelung durch Digitalisierung und Abtreibung.

Auf den Bildern und den Videos, die im Deutschen Theater gezeigt wurden, sehe ich ein sinnliches, körperliches und auch poetisches Theater. Das Stück „Weg mit den Waffen“ ist eine Gruppenchoreografie mit langen Stöcken.

Bei uns kommt immer zuerst der Inhalt und dann die Form. Darum haben wir nicht den einen Regiestil. Wir entwickeln den Stil aus dem Inhalt heraus. Unser Theater möchte aufklären. Wenn sich jemand unser Stück über Natur und Mensch ansieht und danach die Zigarettenstummel nicht mehr auf den Boden wirft, dann haben wir eines unserer Ziele erreicht.

Ihre Muttersprache ist russisch. In welcher Sprache finden die Vorstellungen im Theater statt?

Auf Russisch und auf Ukrainisch. Ich spreche immer russisch, weil ich Ukrainisch nicht fließend beherrsche. Ich war bis vor einem Monat als Theaterleiter eine öffentliche Person in Mariupol und habe auch bei öffentlichen Auftritten immer russisch gesprochen. Ich hatte nie Probleme.

Was bleibt?

Der Kontakt zu „meinen“ SchauspielerInnen über den Telegram-Kanal. Sie schreiben mir, dass sie sich in den schlimmsten Momenten der Angst an unser Theater erinnern. An die Momente der Verzauberung. An lustige Augenblicke. Das helfe. Ich bin sehr froh, dass unser Theater, auch wenn es im Moment äußerlich nicht mehr existiert, nichtsdestotrotz da ist und eine Stütze sein kann.

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