Studien zu Kinderverschickungen: Schikanen und Misshandlungen
Mittlerweile gibt es erste Studien zu Kinderverschickungen nach 1945. Sie offenbaren, wie groß der Forschungs- und Handlungsbedarf ist.
Vorsichtig geschätzt sind zwischen sechs und acht Millionen Kinder in der alten Bundesrepublik zur Kur geschickt worden, zum Gesundwerden oder zur Vorbeugung. Auch in der DDR gab es Kinderkuren. Viele Kinder – nicht alle – haben in den Kurheimen Lieblosigkeit, Schikanen, Misshandlungen oder sogar sexualisierte Gewalt erlebt. Erst seit einigen Jahren organisieren sich Betroffene, wird die Dimension des Verschickungswesens deutlich. Allein in Nordrhein-Westfalen könnten zwischen zehn und zwanzig Prozent der Jahrgänge 1945 bis 1990 betroffen gewesen sein. Zu diesem Schluss kommt eine im Januar erschienene Studie, die das Düsseldorfer Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales nach einer Anhörung im Landtag in Auftrag gegeben hatte.
Ausgeführt von der Dokumentations- und Forschungsstelle der Sozialversicherungsträger in Bochum, sv:dok, ist es die erste Studie, die auf ein großes Bundesland schaut und dabei historisch ausholt. Im November 2021 war bereits eine Studie der Diakonie Niedersachsen erschienen, die sechs ihrer Heime beispielhaft untersucht. Die Rudolf-Ballin-Stiftung in Hamburg hat eine auf zweieinhalb Jahre angelegte Untersuchung zur behördlichen Verschickungspraxis der Hansestadt angeschoben, deren erster Zwischenbericht vorliegt. Das Deutsche Rote Kreuz will sich ebenfalls der Geschichte der eigenen Kinderkurheime stellen. Dies alles sind erste Ansätze, die zeigen, wie umfangreich das politisch und wissenschaftlich bislang ignorierte Thema ist.
Die Schwierigkeiten fangen mit der Aktenlage an. Viele Akten wurden entsorgt oder verlagert – unklar wohin. Gesicherte Fallzahlen für Nordrhein-Westfalen gebe es nicht, heißt es in der sv:dok-Studie. Als Grundlage dienten die Zahlen der Kinderfahrtmeldestellen, die für die Bahn die Transporte der Kurkinder abstimmten, sowie der sogenannten Ausgleichsstellen, die dem Landesjugendamt untergeordnet waren und später in den Landschaftsverbänden Rheinland und Westfalen aufgingen. Sie koordinierten die Heil- und Erholungskuren zwischen den Kurheimen und den amtlichen Entsendestellen, leisteten auch finanzielle Beihilfen.
Anträge für Erholungskuren konnten sowohl niedergelassene wie Amts- und Schulärzte stellen. „Es ist davon auszugehen, dass die Gesundheitsämter […] die zentralen Steuerungsaufgaben übernahmen“, heißt es in der Studie. Im Rheinland seien die Kuren zu 42 Prozent von kommunalen Trägern und zu 43 Prozent von solchen der freien Wohlfahrtspflege verantwortet worden. 15 Prozent der Maßnahmen entfielen auf Krankenkassen oder die Werksfürsorge.
Die Aktenlage ist schwierig
Insgesamt bleibt das Zusammenspiel der verschiedenen Versicherungsträger, Wohlfahrtsverbände und kommunalen Ämter ein buntes und mitunter dissonantes Konzert. Oder ein kunstvolles organisatorisches Arrangement, das sich irgendwann verselbständigte? Selbst nach dieser gut aufbereiteten Studie ist man nur ansatzweise schlauer. Es kommt hinzu, dass die meisten Kuren nicht in NRW selbst, sondern an Ost- und Nordsee oder in den Bergen stattfanden. Auch wer die Rechtsaufsicht hatte, blieb oft unklar.
Die Idee von Kinderkuren geht bis ins 18. Jahrhundert zurück, sie entstand dort, wo sie besonders nötig waren, in den Städten des britischen Manchesterkapitalismus. In Westdeutschland knüpfte man nach 1945 an die Erholungsfürsorge der Weimarer Republik an, die sie als freiwillige Leistung der Krankenkassen eingeführt hatte. Eine soziale Errungenschaft, die sich die Nationalsozialisten zu eigen machten und zur „Kinderlandverschickung“ deklarierten. Die bereits vorhandenen Strukturen wussten sie ideologisch wie praktisch zu nutzen, bis der Krieg sie oftmals zwang, sofern nicht zerstört, die Kurheime zu Lazaretten umzufunktionieren.
Gibt es auffällige Kontinuitäten bei den Kinderkuren der Nachkriegszeit zum Nationalsozialismus? Die sv:dok-Studie legt das nicht nahe und schließt sie nicht aus. Misshandlungen und pädagogisches Fehlverhalten in den Heimen zu untersuchen, sei nicht Aufgabe der Studie gewesen, stellt der Verfasser Marc von Miquel fest, und aufgrund der Aktenlage nur schwer zu rekonstruieren. Einzelfallstudien könnten ergiebiger sein, die Studie benennt Fragestellungen und Forschungsansätze zum Kontext von Gewalt und Kinderverschickung.
Dass es in manchen Heimen über NRW hinaus eine personelle Kontinuität zur NS-Zeit gegeben hat, hält die Studie ausdrücklich fest. Es gelte daher, „die biografische Sozialisation des Heimpersonals und der Ärzteschaft genauer zu beleuchten“, schreibt von Miquel. Was der Historiker damit meint, erklärt er der taz am Telefon: „Die sekundäre Sozialisation dieser Generation durch Gewalterfahrung in der Wehrmacht oder NS-Parteiorganisationen.“ Daraus ließen sich spezifische Gewalttraditionen und -milieus ableiten, von Miquel schlägt den Bogen zu den Heimskandalen in der Behindertenhilfe, die darauf hinwiesen, „dass Gewaltakte gegen Kinder weitaus häufiger und in weitaus mehr sozialen Lagen stattfanden“, als gemeinhin angenommen.
Den Opfern eine Stimme geben
Er vermutet einen „repressiven Grundzug der wohlfahrtsstaatlichen Intervention“, die historisch vor die NS-Zeit zurückgeht. Der Fall des Kinderarztes Dr. Müller, der in Bonn-Oberkassel das Haus Bernward leitete und in den 1970er Jahren seine Mitarbeiter:innen anwies, den Kindern Psychopharmaka und Schmerzmittel zu verabreichen, zeige, wie groß der Forschungsbedarf auch zur „ärztlichen Gewaltpraxis“ sei. Das Heim wurde 1976 geschlossen. Weil es privat betrieben wurde, hat sich bis heute niemand gefunden, eine Einzelfallstudie zu finanzieren, bedauert von Miquel.
Der Historiker spricht von einem „Puzzlefeld“ für die wissenschaftliche Forschung, in dem erst wenige Teile zusammenpassten. Für ihn steht der dürftigen Aktenlage die große Zahl und hohe Glaubwürdigkeit der Zeugnisse ehemaliger Verschickungskinder gegenüber. Man dürfe an den Selbsthilfestrukturen der Betroffenen „nicht vorbeigehen und diese nicht vereinnahmen“, betont er. Dass die Aktenlage „nicht zufriedenstellend“ ist, bestätigt Christine Möller von der Diözesanbibliothek des Bistums Osnabrück. Die Kulturwissenschaftlerin hat im Auftrag der Kongregation der Franziskanerinnen vom Hl. Georg zu Thuine über drei Kinderkurheime des Ordens recherchiert.
Anders als die Bochumer Studie hat ihre Untersuchung einen kleinen Fokus und individuellen Ansatz. Neben der obligatorischen Archivrecherche – 103 Krankenkassen hat Möller unter anderem angeschrieben, nur 47 hätten überhaupt geantwortet und die alle negativ – stand für die Kulturwissenschaftlerin im Vordergrund, den Betroffenen selbst „eine Stimme zu geben und nichts zu bewerten“, sagt sie am Telefon. „Manche möchten nur reden über das, was sie erlebt haben“, sagt Möller.
Es braucht unabhängige Stellen
Seit Anfang des Jahres ihr Zwischenbericht erschienen ist, hätte es viele neue Rückmeldungen von Betroffenen gegeben. Wird da die Wissenschaftlerin zur Therapeutin? „Nein“, wehrt sie ab. Dies könne nur ein Anfang sein, eine Bestandsaufnahme, der Orden als Anlaufstelle. „Es geht darum, den Betroffenen Gehör und – vor allem – Glauben zu schenken.“ Möller hat auch mit Angehörigen sowie ehemaligen Ordensschwestern gesprochen, sofern noch am Leben. Letztere können sich – ob aus Gründen des Alters oder des Selbstschutzes sei dahingestellt – an wenig erinnern.
Ein intern vergebener Auftrag zur Aufarbeitung von Beschwerden ist vor Jahren gescheitert, diesmal war man schlauer und wandte sich an eine unabhängige Stelle. Der Orden betreibt die Kurheime heute als Mutter-Kind-Kliniken und wünscht sich sicher ein sauberes Image. Doch anders als in der Katholischen Kirche sonst ist man in diesem Fall darum bemüht.
Wie konnte es dazu kommen, dass ausgerechnet die Schwächsten der Gesellschaft, nämlich Kinder, bis Anfang der 1990er Jahre in so großer Zahl und Häufigkeit Schikanen und Misshandlungen ausgesetzt waren? „Und wir sprechen bei der Kinderverschickung von einem ganzen Industriezweig“, sagt Möller mit Nachdruck. Eine verrohte Nachkriegsgesellschaft hätte bei vielen Erwachsenen – ob Eltern, Ärzt:innen oder Betreuer:innen – dazu geführt, dass sie oftmals „das Leid der Kinder nicht anerkennen konnten“. Wie ihr Kollege Marc von Miquel sieht sie eine transgenerationelle Weitergabe von psychologischen Mustern wirksam, die sich im System der Kinderkurheime strukturell, individuell, institutionell Bahn gebrochen hätten.
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