Kollektive Trauer in Zeiten der Pandemie: Trauern heißt lernen
Krieg ist heute, Pandemie war gestern. Da ist nur wenig Zeit zum Innehalten. Doch Trauer ist unabdingbar, weil sie zum Nachdenken anregt.
Ab dem 20. März sollen fast alle Coronamaßnahmen in Deutschland wegfallen. Vor Kurzem träumten viele noch von einem unbeschwerten Sommer, dann kam der Krieg in der Ukraine. Ich selbst schwanke zwischen Hoffnung auf einfachere Zeiten und Sorge vor einem Weltkrieg, zwischen Krisenmüdigkeit und Solidarität mit den Geflüchteten, dem Gefühl, dass es jetzt Wichtigeres gibt als eine fast überstandene Pandemie.
So oder so geht der Blick lieber nach vorne als zurück. Wir haben zwei lange Jahre durchgehalten. Jetzt noch mal auf Corona schauen, während wir schon mittendrin sind in der nächsten Krise?
Das eine schließt das andere nicht aus – es kann uns sogar helfen. Wir haben in den letzten beiden Jahren eine gesellschaftliche Ausnahmesituation erlebt, die uns völlig unvorbereitet getroffen hat. Das Dümmste, was wir jetzt tun könnten, wäre: nicht zurückzublicken. Nicht zurückzublicken darauf, wie die Pandemie unsere Gesellschaft verändert hat, und auf mehr als sechs Millionen Coronatote weltweit, davon bis dato mehr als 120.000 in Deutschland.
Durchhalten, nach vorne schauen, weitermachen: Das kann eine kurzfristige Strategie sein, die stabilisierend wirkt. Langfristig werden wir Traumata so nicht los. Wenn wir die Pandemie als Gesellschaft unbeschadet überstehen wollen, müssen wir der Trauer über die Folgen dieser Krise Platz einräumen. Oder, wie US-Präsident Joe Biden es anlässlich einer Gedenkfeier für die an Covid-19 Gestorbenen formulierte: „To heal, we must remember.“
ist Journalistin, ehrenamtliche Sterbebegleiterin und podcastet über Tod und Trauer. Von ihr ist soeben erschienen (mit Susann Brückner): „Endlich: Über Trauer reden“, Goldmann Verlag, 237 Seiten, 17 Euro
Berührende Covid-Tote-Gedenkfeier
Ich weiß selbst, wie schwer das ist. Als ich mir während der Recherche für diesen Text die Gedenkfeier für die Verstorbenen der Coronakrise auf Youtube angesehen habe, die Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 18. April vergangenen Jahres im Konzerthaus Berlin ausrichtete, kamen mir die Tränen. Eigentlich hatte ich nur kurz in die Reden der Hinterbliebenen reinschauen wollen. Eine Dreiviertelstunde später klappte ich meinen Laptop zu, neben dem sich ein kleiner Berg Taschentücher angesammelt hatte, ans Weiterschreiben war nicht zu denken.
Die Geschichten dieser Menschen, die vom Sterben ihrer Zugehörigen während der Pandemie berichteten, berührten mich. Da war die Frau eines Arztes, der 2020 kurz nach Ausbruch des Virus erkrankte und wenig später starb. Seine letzten Worte am Telefon: „Ich werde jetzt ins künstliche Koma versetzt und beatmet. Mach dir keine Sorgen, du kannst mich bald wieder abholen. Ich freu mich auf dich.“
Oder die 28-Jährige, deren Vater wegen seiner Blutkrebserkrankung in der Klinik war. Sie und ihre Familie durften ihn zwei Monate lang nicht besuchen, auch Videoanrufe waren nur selten möglich. Als er ins künstliche Koma versetzt wurde, hörten sie eine quälende Woche lang nichts. Dann wurden die lebensverlängernden Maßnahmen eingestellt und die Familie durfte ein letztes Mal zu ihm. Die Tochter sagt: „Es fühlt sich an, als hätten wir ihn im Stich gelassen.“
Beim Sterben nicht allein zu sein. Das Gefühl zu haben, für die liebsten Menschen am Lebensende das Einzige zu tun, das man noch für sie tun kann: da sein. Behutsame, achtsame Abschiede zu ermöglichen. All das, wofür die Hospiz- und Trauerbewegung seit Jahrzehnten kämpft, wurde aus der Not heraus unmöglich gemacht.
Wir müssen trauern
Die Narben, die diese Erfahrungen bei den Zugehörigen hinterlassen, das Wissen um das Leid, das wir hunderttausend Sterbenden angetan haben, wird bleiben. Schon jetzt zeigen erste wissenschaftliche Befragungen, wie massiv Trauerprozesse erschwert wurden.
Die Zahl der Menschen, die das betrifft, ist groß. Es betrifft nicht nur die Zugehörigen derer, die an Corona gestorben sind, sondern auch die Familien und Freundeskreise aller, die in dieser Zeit ihren letzten Atemzug in einem Krankenhaus oder einer Pflegeeinrichtung getan haben. Eine Zahl, die in die Millionen geht – und eine, die klarmacht, dass es hier nicht um Einzelschicksale geht. Wir haben eine kollektive Krise erlebt, die auch kollektiv verarbeitet werden muss.
Wir müssen trauern, doch leider sind wir darin nicht gut. Unsere Gesellschaft ist vor allem aufs Funktionieren ausgelegt – Trauer, ob gesellschaftlich oder individuell, steht dem im Weg. Sie stört die Abläufe. Meist wird sie als Problem angesehen, das möglichst schnell aus der Welt geschafft werden muss. Dabei verkennen wir, dass nicht Trauer das Problem ist, sondern das, was sie hervorgerufen hat. Trauer ist die Lösung, nämlich ein Bewältigungsprozess. Und einer, der das Potenzial hat, uns etwas für die Zukunft mitzugeben: Krisenkompetenz.
Wenn wir es schaffen, traumatische Erfahrungen in unser Leben zu integrieren, anstatt sie zu verdrängen, stärken wir unsere Resilienz. Das gilt auch für uns als Gesellschaft.
USA ein Vorbild?
Trauer braucht Ausdruck, Zeit und Ort. Dafür gibt es Rituale. Rituale „symbolisieren die Einheit der jeweiligen Gemeinschaft, ihre Grenzen, ihre inneren Ordnungsprinzipien und leitenden Werte“, schreibt die Historikerin Barbara Stolberg-Rilinger in ihrem Buch „Rituale“. Ein kollektives Ritual wie die bundesweite Gedenkfeier im April 2021 ist wichtig: um zu zeigen, dass die Toten und ihre Hinterbliebenen uns nicht gleichgültig sind.
Das Problem an Ritualen ist, dass sie Menschen auch erreichen müssen. Damit tun wir uns schwer, weil wir in einer Gesellschaft leben, in der standardisierte Rituale immer weniger eine Rolle spielen. Mit den oftmals von kirchlicher Seite initiierten Initiativen und Gedenkfeiern der letzten zwei Jahre bin ich wenig in Berührung gekommen. Auch den feierlichen Akt im Konzerthaus Berlin habe ich erst beim Schreiben dieses Artikels so richtig zur Kenntnis genommen.
Was mir allerdings eindrücklich im Gedächtnis geblieben ist, ist die Installation „In America: Remember“ der US-amerikanischen Künstlerin Suzanne Brennan Firstenberg. Im September und Oktober 2021 wurden auf der National Mall in Washington, einer Parkanlage zwischen Kapitol und Lincoln Memorial, mehr als 660.000 kleine weiße Fahnen als Symbol für die Covid-Toten auf einer Fläche von über 8 Hektar aufgestellt – an derselben Stelle, wo 1987 erstmals der Aids Memorial Quilt ausgelegt wurde.
Die Fahnen konnten von den Besucher:innen mit den Namen ihrer Toten und mit Widmungen versehen werden. Wer nicht vor Ort war, konnte sich im Internet eine Fahne aussuchen, die dann beschriftet wurde. Wenn ich mir die Bilder und Videos des weißen Fahnenmeeres anschaue, das sich über eine schier unendliche Fläche erstreckt, stockt mir noch heute der Atem. „An all meine Patienten“, schreibt dort eine Krankenschwester auf einer der Fahnen, „Wir haben lange und hart gekämpft. Ich habe für euch gebetet und für euch geweint. Ich wünschte, ich hätte mehr für euch tun können.“
Geschichten hinter Zahlen
Die Installation ist mir deshalb so sehr im Gedächtnis geblieben, weil sie nichts versteckte. Dort gedachten Zugehörige ihrer Toten, saßen Menschen weinend auf Bänken, während andere mit ihrem Hund spazieren gingen und Kinder auf Skateboards durch die weißen Fähnchen cruisten. Für mich war sie nahe dran am perfekten Trauerritual.
Sie machte die ungeheuerliche Dimension des Sterbens während der Pandemie erfahrbar, gleichzeitig blitzten die Geschichten hinter den Zahlen und Statistiken hervor und verdeutlichten den Stellenwert jedes einzelnen dieser Schicksale – unter freiem Himmel, mitten im Leben, in direkter Nähe zum Weißen Haus.
Wir sollten uns stören lassen. Wir sollten als Gesellschaft trauern. Und manchmal kann kollektive Trauer auch den Anstoß geben für individuelle Trauer. Nachdem ich meinen Laptop zugeklappt hatte, rief ich meinen Redakteur an und sagte ihm, dass ich meinen Artikel nicht rechtzeitig abgeben würde. Ich ging spazieren.
Ich fing an, über die letzten zwei Jahre nachzudenken, darüber, wie meine Freundschaften sich verändert hatten, dass mein zwei Jahre alter Sohn seine 94-jährige Großmutter in seinem Leben bisher zweimal gesehen hatte und wie vernichtend mich die Erkenntnis getroffen hatte, dass sich von einem Tag auf den anderen alles ändern konnte, wie fragil und angreifbar unsere Gesellschaft, unsere Grundrechte waren.
Über all das, was ich lange Zeit gut weggepackt hatte. Das tat weh, und es war gut. Es waren nur ein paar kleine Schritte, aber in die richtige Richtung.
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