Co-Gründer des Verlags Lonely Planet: „Reisen bewirkt auch Gutes“
Vor 50 Jahren fuhr Tony Wheeler von London bis nach Australien. Daraus entstand der Reisebuchverlag Lonely Planet. Internet und Klimakrise änderten vieles.
Welchen Ort der Welt man im Gespräch mit ihm auch erwähnt – der 75-jährige Brite Tony Wheeler war meistens schon mal dort. Seine Leidenschaft fürs Reisen entfachte 1972. Er und seine Frau Maureen fuhren von London durch Europa und Asien nach Australien. Dort schrieben sie einen Reiseführer, „Across Asia On The Cheap“, und verkauften ihn an Buchläden. Es war der Beginn ihres Reisebuchverlags Lonely Planet.
Er wurde zu einem der größten der Welt, druckte 150 Millionen Bücher, prägte den Individualtourismus und machte Rucksackreisen populär. 2007 und 2011 verkauften die Wheelers ihr Unternehmen in zwei Schritten für 130,2 Millionen Britische Pfund (heute 154 Millionen Euro) an BBC Worldwide. Seitdem wurde ihre Ex-Firma zweimal weiterverkauft. Reisebuchverkäufe gingen generell zurück. Nach Ausbruch der Pandemie schloss Lonely Planet Büros und entließ Mitarbeiter.
Er sei „sehr froh“, damals verkauft zu haben, schreibt Wheeler der taz in einer E-Mail vor dem Video-Interview. Als es vormittags australischer Zeit stattfindet, ist er gerade mit dem Fahrrad vom Sport zurückgekommen und sitzt am Schreibtisch seines Hauses in Melbourne.
taz am wochenende: Herr Wheeler, Sie sind ein Pionier der Backpacker-Kultur. Reisen Sie noch immer mit Rucksack oder inzwischen mit Rollkoffer?
Tony Wheeler: Ich nutze noch immer häufiger einen Rucksack als eine Tasche mit Rollen. Wenn ich aber heute die Wahl zwischen einer schrecklichen Unterkunft und einem teuren, schönen Hotel habe, nehme ich Letzteres. An bestimmten Orten hat man allerdings keine Wahl, dort gibt es nur Unterkünfte für Backpacker. Ich habe jedenfalls schon mehr Bettwanzen in meinem Leben gesehen als mir lieb ist.
Was ist so großartig daran, sein Gepäck auf dem Rücken zu tragen, oft bei Hitze und auf der Suche nach dem Weg?
Rucksäcke haben den Vorteil, dass man sie einfacher verstauen kann. Sie zwingen einen dazu, mit leichtem Gepäck zu reisen. Wenn man hingegen eine riesige Tasche hat, neigt man dazu, sie vollzumachen.
Wie schwer darf ein Rucksack sein?
Man sollte kein Gepäck für einen Flug aufgeben, denn nur mit Handgepäck kann man direkt nach der Ankunft den Flughafen verlassen. Einige Airlines erlauben 10 Kilo Handgepäck, andere sogar 14. Mehr sollte es nicht sein. Zehn Kilo sind ein gutes Ziel.
Sie führen eine Liste der Länder, die Sie bereist haben.
Ja, ich schäme mich wirklich dafür, das ist keine gute Sache. Denn eigentlich bin ich überhaupt keiner dieser Listenabhaker. Ich kenne Leute, die die Länder nacheinander abhaken, um sagen zu können, sie waren in jedem Land der Welt. Darauf habe ich es aber nie angelegt. Ich bin weit hinter ihnen.
Auf wie viele Länder kommen Sie aktuell?
Da müsste ich nachgucken. Es hängt auch davon ab, wie man zählt. Die echten Ich-war-überall-Leute verwenden die UN-Mitgliedsliste als Ausgangspunkt. Sie hat 193 Länder. Dann gibt es noch einige, die man aus meiner Sicht auch als Länder zählen sollte, wie Taiwan, ob sie nun in der UN sind oder nicht. Frank Zappa sagte mal: „Man kann kein echtes Land sein, wenn man kein Bier und keine Fluggesellschaft hat – es hilft, wenn man eine Art Fußballmannschaft hat.“ Taiwan hat all das. Nach meiner Zählweise war ich wahrscheinlich in 170 Ländern oder so.
Tony Wheeler wurde 1946 in England geboren. Er hat einen Ingenieurabschluss der Warwick University, einen MBA der London Business School und war Ingenieur beim Autokonzern Chrysler. 1973 gründete er mit seiner Frau Maureen den Reisebuchverlag Lonely Planet. 2007 und 2011 verkauften sie ihn in zwei Schritten an BBC Worldwide. Wheeler sitzt im Vorstand des Global Heritage Fund. Das Paar betreibt die Stiftung Planet Wheeler und das Eventzentrum Wheeler Centre in Melbourne. Es lebt in Melbourne und London und hat zwei Kinder.
Was macht ein gutes Reiseziel aus?
Die Leute mögen Länder aus unterschiedlichen Gründen. Ich war nie einer, der am Strand liegt und Bücher liest. Vor ein paar Jahren war ich auf den Malediven. Ich wollte immer mal dorthin, weil ich so oft drübergeflogen bin und man die Inseln dabei sehen konnte. Aber die Malediven waren nichts für mich.
Sie bevorzugen Ziele wie Tschernobyl oder Nordkorea.
Ich glaube nicht, dass Nordkorea mich noch mal einreisen lassen würde.
Wegen Äußerungen von Ihnen über Ihre Reise?
Genau, ich würde es auch nicht noch mal riskieren. Ich fand es aber sehr faszinierend. Es fühlte sich an wie in einer Filmkulisse. Was wir sahen, war nicht echt. Wir wurden belogen. Es war der seltsamste Ort, an dem ich jemals war, gefolgt von Turkmenistan. Dort würde ich gerne noch mal hin.
Sie wuchsen in Pakistan, auf den Bahamas, in den USA, England und Kanada auf, weil Ihr Vater bei einer Airline arbeitete. War das ein Grund für Ihre Reiseleidenschaft?
Ja, ganz sicher. Das ist aber wohl nicht der einzige Grund, denn mein jüngerer Bruder und meine jüngere Schwester haben keine so große Leidenschaft fürs Reisen entwickelt wie ich. Ich war schon als kleines Kind vom Reisen fasziniert.
Vor genau 50 Jahren brachen Sie mit Ihrer Frau in einem alten Austin Mini Van zu Ihrer berühmten Tour auf – von London durch Europa und Asien nach Australien. Dort schrieben Sie in Ihrer Küche Ihren ersten Reiseführer „Across Asia on the Cheap“. War dieser Trip die Reise Ihres Lebens?
Definitiv. Ich kenne viele andere Leute, die auch eine Reise unternommen haben, die ihr Leben stark geprägt hat. Meine Frau Maureen hat gestern Freunde von uns besucht, die in den Siebzigern viel Zeit in Afghanistan verbracht haben. Sie sind allerdings nicht den Hippie Trail entlanggereist …
… als Hippie Trail gilt die damals beliebte Landroute von Europa nach Südasien.
Sie fuhren einfach nach Afghanistan und blieben lange dort. Heute sind sie Händler für afghanische Teppiche. Die Reise dorthin hat den Rest ihres Lebens beeinflusst.
Warum reisen wir?
Es erweitert den eigenen Horizont. Es gibt immer etwas, was man auf Reisen lernt. Ich lese ständig über Dinge, die ich über das Reisen kennengelernt habe, und will dann noch mehr darüber wissen. Man darf auch nicht vergessen: Für viele Länder ist Tourismus ein wichtiger Teil ihrer Wirtschaft.
Ihr einstiger Verlag Lonely Planet gehört heute dem US-Medienkonzern Red Ventures. Er verdient Geld mit Provisionen für Onlinekäufe. Zwei Private-Equity-Firmen besitzen große Anteile. Machen Sie sich Sorgen um die Unabhängigkeit von Lonely Planet?
Ich war ein bisschen überrascht, wie sie Lonely Planet über Wasser halten. Das vergangene Jahr war außergewöhnlich schwierig, um Reiseführer zu aktualisieren. Man weiß nicht, welche der Dinge, die darin genannt werden, die Pandemie überstehen werden. Als ich vor ein paar Monaten in London war, habe ich ein halbes Dutzend Lonely-Planet-Autoren getroffen. Einige von ihnen arbeiteten da gerade an Lonely-Planet-Projekten, sie aktualisierten Bücher, sie sind weiterhin gereist. Das Ganze scheint also noch zu laufen.
Red Ventures entfernte vor ein paar Monaten Lonely Planets vor 25 Jahren gegründetes Thorn Tree Forum, in dem sich sehr viele Reisende austauschten. Alle Beiträge wurden gelöscht.
Ich habe das Forum viel genutzt, besonders für seltsame Orte. Zuletzt habe ich viel Zeit dort verbracht, als ich in die Demokratische Republik Kongo gereist bin. In dem Forum gab es viele Informationen über das Land.
Sie hätten das Forum also nicht geschlossen?
Nein, na ja, es gibt viele Dinge … Ich leite die Firma nicht. Ich muss zugeben: Wenn ich sie leiten würde, würde ich keinen guten Job machen. Denn ich würde versuchen, Dinge nach der Devise beizubehalten: „Mir gefällt es so, also lasse ich es so.“ Wir hatten das Glück, vieles tun zu können, obwohl es ökonomisch nicht sinnvoll war. Wir haben es getan, weil wir dachten, es macht Spaß oder ist das Richtige. Aber am Ende ist es so: Wenn du als Firma die Rechnungen nicht bezahlen kannst, gehst du bankrott. Ich bewundere es, dass Lonely Planet weiterhin Reiseführer machen. Das ist sehr gut. Und wenn sie sie nicht so machen, wie ich sie gerne mache, dann deshalb, weil man es heute nicht mehr so machen kann.
Die Digitalisierung hat die Reisebranche umgewälzt. Im Rückblick haben Sie Ihr Unternehmen aus wirtschaftlicher Sicht zu einem sehr guten Zeitpunkt verkauft. Haben Sie vorhergesehen, dass …
… nein, wir haben das nicht kommen sehen. Später dachten wir: Oh Gott, was ein Glück! Aber das war nicht die ursprüngliche Absicht dahinter.
Wie hat die Digitalisierung das Reisen aus Ihrer Sicht verändert?
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Vieles zum Guten. Ich will im Februar nach Tschad und kann online gucken, welche Airlines hinfliegen. Früher war das eine schwierig zu findende Information. Heute ist es möglich, Dinge schnell zu finden, herunterzuladen und herumzuschicken, darüber beklage ich mich also sicher nicht. Aber es verändert die Art, wie wir reisen. Es hatte damals eben auch einen gewissen Charme, nicht zu wissen, was man tut, und eine Lösung zu finden, wenn es schief ging. Das ist in vielerlei Hinsicht weg.
Sie schrieben mir vor unserem Gespräch, Sie nutzten noch immer lieber einen guten Reiseführer als die populäre Website Tripadvisor, auf der Urlauber Erfahrungen teilen. Warum?
Reisebuchautoren versuchen Expertise zu entwickeln. Sie haben sich mit dem Ort befasst. Bei Tripadvisor sind die Leute in ein Restaurant gegangen, mochten es oder nicht und schreiben ihre Meinung auf. Sie sind nicht hingefahren, um Restaurants zu überprüfen, sie sind nur zufällig auf eines gestoßen. Ich war an einigen Orten, für die es wirklich lustige Tipps auf Tripadvisor gab, und habe gemerkt: Oh, das ist nicht ganz richtig. Ich gucke manchmal auch bei Tripadvisor, aber würde danach nicht meine Reise planen.
Zu Beginn der Pandemie regten Sie an, den Moment zu nutzen, um über Veränderungen und Verbesserungen in der Art, wie wir reisen, nachzudenken – etwa Overtourism ernster nehmen, weniger für Partytrips fliegen und höhere Treibstoffsteuern für Airlines und Kreuzfahrtanbieter einführen. Wie optimistisch sind Sie heute, dass die Pandemie das Reisen nachhaltig verändert?
Es wird bestimmt Änderungen geben. In der Karibik gab es den in mancher Hinsicht schlimmsten Kreuzfahrttourismus. Dort sagten die Anbieter: Entweder lasst ihr unsere Schiffe umsonst hinein oder wir fahren eben woanders hin. Diese Inselstaaten haben nun festgestellt, dass sie auch ohne Kreuzfahrten komfortabel leben können. Ich denke, dass sie die Kreuzfahrten nach der Pandemie besser managen werden. Das wird vielerorts passieren. Ich glaube nicht, dass es wieder so viele vermeidbare Reisen geben wird. Die Leute merken, dass sie nicht unbedingt zu diesem Geschäftstreffen reisen müssen. Reisen verursacht definitiv Schäden, aber nicht nur. Es bewirkt auch Gutes. Viele Orte haben gespürt, dass es sehr schmerzhaft ist, auf die gute Seite des Tourismus zu verzichten. Nicht so sehr in der Ersten Welt, dort gibt es andere Möglichkeiten. Aber für Entwicklungsländer ist Tourismus oft wichtiger.
Die Klimakrise spielt eine immer größere Rolle für das Reisen. Sie appellierten schon 2006 zusammen mit dem Gründer des Reisebuchverlags Rough Guides, weniger zu fliegen, länger zu bleiben und CO2-Emissionen auszugleichen.
CO2-Kompensationen sind wie die katholische Kirche. Du betest das Ave Maria und deine Sünden sind weg. Aber sie lösen das Problem nicht wirklich, sie erleichtern nur das Gewissen. Es ist gut, ein paar mehr Bäume zu pflanzen und so etwas, aber es ist nicht die große Antwort. Ich denke, es löst auch nicht alle Probleme, nur zu sagen, dass jeder aufhört zu reisen. Was Mark Ellingham von Rough Guides und ich gesagt haben, war: Es gibt einige unnötige Reisen. Für einen Tag irgendwohin zu fliegen ist wirklich nicht notwendig. Wenn du hinfliegst, verbringe dort wenigstens ein bisschen Zeit.
Reicht das in Anbetracht der Klimakrise?
Die einfache Lösung für die Klimaprobleme, die das Reisen mit sich bringt, ist es, weniger zu reisen. Und wenn man zentraler gelegen lebt, ist es natürlich einfacher, weniger zu reisen oder auf weniger schädliche Art zu reisen. Für Europäer ist es also einfacher, sensibel zu reisen, als für Menschen, die weit entfernt von allem sind. Wenn man in Australien lebt und mit der übrigen Welt in Kontakt bleiben möchte, ist dies unweigerlich mit mehr Reisen verbunden, als wenn man in Schweden lebt. Natürlich ist Reisen nicht die einzige schädliche Aktivität. Es gibt viele Wege, wie wir weniger konsumieren können.
Sie hatten viel Macht mit Ihrem Verlag. Ihnen wurde vorgeworfen, durch Ihre Empfehlungen ursprüngliche Orte in Massentourismusziele zu verwandeln.
Ja, oft hieß es: „Lonely Planet hat einen Reiseführer über diesen Ort herausgebracht und guck dir an, was jetzt dort los ist!“ Ich sage Leuten, die das sagen: Wir haben einen Afghanistan-Reiseführer veröffentlicht. Ich wünschte wirklich, man würde sagen: „All die Touristen in Afghanistan überall! Man kann in Herat oder Masar-i-Scharif nicht mehr die Straße langgehen, ohne über Touristen zu stolpern, und daran ist nur Lonely Planet schuld!“ Diese Schuld würde ich wirklich gern auf mich nehmen.
Ein bekanntes Gegenbeispiel ist das Unterhaltungsviertel um die Khao San Road in Bangkok. 1982 empfahl Lonely Planet erstmals ein paar Unterkünfte an der damals leeren Straße. Seitdem kommen Rucksacktouristen in Scharen.
Die Khao San Road finde ich auch ein interessantes Beispiel. Aber das ist fast ohne unser Zutun passiert. Als ich das erste Mal nach Bangkok reiste, gab es einige günstige Hotels am Bahnhof. Und es gab einen Amerikaner, der ein Hotel für GIs aus dem Vietnamkrieg aufgebaut hatte. Wir trieben die Leute dorthin. Es wurde ein kleines Zentrum für Rucksacktourismus. Und dann zogen plötzlich alle quer durch die Stadt zur Khao San Road. Ich habe das nicht kommen sehen. Was aber generell Einfluss hat, sind Flughäfen. Baut man irgendwo einen Flughafen, fangen die Leute an, hinzufliegen.
Gab es eigentlich mal einen Ort auf der Erde, der Ihnen so gut gefiel, dass Sie ihn lieber in keinem Ihrer Bücher empfohlen haben?
Nein, das habe ich nie getan. Ich kenne einige Reiseführerautoren, die sagen: „Dies ist meine Bar. Die erwähne ich nicht.“ Dann wird es eben jemand anderes tun. Wenn es eine gute Bar ist, kommt es heraus. Als Reisebuchautor ist es dein Job, interessante Dinge zu finden und der Welt davon zu erzählen. Ich stimme zu: Das ist eine schwierige Situation. Aber wenn man das nicht möchte, dann sollte man kein Reiseführerautor sein. Dann sollte man sich einen anderen Beruf suchen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja