EU-Einstufung von Atomkraft und Erdgas: Russisch-europäisches Roulette

Die EU-Kommission betreibt ein Glücksspiel. Berlin und Paris schieben sich gegenseitig die Bälle zu. Paris setzt auf Kernenergie, Berlin auf Erdgas.

Anti-AKW-Demo in Gorleben 1979 - mit Kinderwagen und Fahrrädern

Wenn die geahnt hätten, dass AKWs wieder in Mode kommen – Kernkraftgegner in Gorleben 1979 Foto: imago-images

Nachhaltigkeit ist ein dehnbarer Begriff. Besonders, wenn er für die Katastrophentechnologie Atomkraft und den Klimakiller Erdgas verwendet wird. So hat die EU-Kommission nun die beiden Verfahren zur Energieerzeugung im Entwurf der sogenannten Taxonomie als nachhaltige Investments eingestuft. Es handelt sich um einen klassischen Kompromiss nationaler Egoismen, der die Gefahren brutal ignoriert.

Zwei Katastrophen durch AKW-Unfälle mit zahlreichen Toten hat die Welt schon erlebt: 1986 in Tschernobyl und 2011 in Fukushima. Außerdem schiebt die EU das ungelöste Problem des radioaktiven Mülls beiseite – eine Gefahr für zehntausende Jahre. Erdgas ist eine fossile Energiequelle, die den Klimawandel beschleunigt. Bei der Verbrennung in Kraftwerken wirkt das Gas zwar weniger klimaschädlich als Kohle.

Allerdings entweichen bei Förderung und Transport große Mengen Methan, die den Treibhauseffekt verstärken. Nicht so schlimm, sagt die Erdgasindustrie. Diesen Daten sollte man jedoch nicht glauben. Dass Atom und Gas auf die Liste gerieten, ist ein Kompromiss zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten. Paris setzt auf die heimische Atomindustrie. In Berlin glaubt man eher an die Putin befriedende Wirkung der russischen Gaslieferungen. Besonders die SPD ist eine Erdgas-Partei.

Allerdings kann die EU-Kommission auf einen realpolitischen Kern ihrer Entscheidung verweisen. Die Taxonomie ist kein EU-weites Programm für staatliche Energiepolitik, sondern nur ein Kompass, der Investoren die Richtung weist. Was die einzelnen Staaten, Konzerne und Investmentfonds tun, bleibt ihnen selbst überlassen. Dass beispielsweise die letzten drei deutschen AKWs in zwölf Monaten abgeschaltet werden, steht nicht zur Diskussion.

Und tatsächlich entstehen bei der Stromerzeugung in AKWs keine klimaschädlichen Emissionen. Gaskraftwerke sollen laut EU nur noch bis 2030 genehmigt, ab 2035 soll die Infrastruktur für grünen Wasserstoff genutzt werden. Gegen letztere Ansage spricht freilich, dass von der angeblichen Zukunftstechnologie des klimaneutralen Wasserstoffs bis jetzt nichts zu sehen ist.

Wer weiß, ob diese neue Technik in den nächsten zehn Jahren wirklich kommt oder ob uns die Erdgaswirtschaft nicht noch Jahrzehnte begleitet – einfach, weil sie da ist. Bei der Atomkraft will die EU-Kommission das Genehmigungsende anscheinend auf 2045 legen. Heißt: Die Anlagen laufen bis 2080. Wenn sich bis dahin in Europa keine Atomkatastrophe ereignet, haben wir echt Glück gehabt. Die EU-Kommission betreibt ein Glücksspiel. Erdgas ist russisches, Atomkraft europäisches Roulette.

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Geboren 1961, ist selbstständiger Wirtschaftskorrespondent in Berlin. Er schreibt über nationale und internationale Wirtschafts- und Finanzpolitik. 2020 veröffentlichte er zusammen mit KollegInnen das illustrierte Lexikon „101 x Wirtschaft. Alles was wichtig ist“. 2007 erschien sein Buch „Soziale Kapitalisten“, das sich mit der gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen beschäftigt. Bis 2007 arbeitete Hannes Koch unter anderem als Parlamentskorrespondent bei der taz.

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