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Umweltaktivist über Verkehr in Madrid„Autofreie Städte sind die Zukunft“

Madrid gehörte zu den ersten Städten, die Individualverkehr aus der City verbannten. Doch das Verbot hielt nicht. Was ging schief?

Wirklich autofrei ist die Madrider Innenstadt nicht geworden, Straßenszene Oktober 2020 Foto: Fer Capdepon Arroyo/picture alliance
Reiner Wandler
Interview von Reiner Wandler

taz: Herr Segura, Madrid führte 2018 die Niedrigemissionszone „Madrid Central“ ein und sperrte 472 Hektar für den Verkehr. Die Luftverschmutzung ging deutlich zurück. Wie ist zu erklären, dass eine solche europaweit beachtete Maßnahme von einer neuen Stadtverwaltung rückgängig gemacht wird?

Paco Segura: Die neue, rechte Stadtverwaltung lässt sich von politischem Fundamentalismus leiten: Was die Linke gemacht hat, ist schlecht, muss gekippt werden. Dabei ging die Stickoxidbelastung bis zur Hälfte zurück. Aber weil diese Maßnahme, die ganz objektiv gesehen gut ist für die Bewohner der Stadt, von der Linken kam, musste sie rückgängig gemacht werden.

Wie konnte die Verwaltung das durchsetzen?

Im Interview: Paco Segura

60, war bis vor wenigen Wochen Chef-Koordinator der spanischen Umweltorganisation Ecologistas en Acción. Der Biologe beschäftigt sich vor allem mit Verkehrspolitik und urbaner Mobilität. Er ist Sprecher der Plattform zur Verteidigung von Madrid Central.

Bürgermeister José Luis Martínez-Almeida hatte den freien Autoverkehr in seinem Wahlprogramm. Zwar gewann Más Madrid, die Partei der vorherigen Bürgermeisterin Manuela Carmena, 2019 erneut die Wahlen, doch die drei Rechtsparteien, Almeidas Partido Popular (PP), Ciudadanos und Vox haben gemeinsam eine knappe Mehrheit.

Die Bürger machten das mit?

Mitten in einer Hitzewelle gingen Ende Juni 2019 über 30.000 Menschen für den Erhalt von Madrid Central – und damit gegen den ungehinderten Pkw-Verkehr – auf die Straße. Die Menschen hatten einfach gesehen, dass es sich ohne Verkehr besser lebt. Wir klagten und erreichten eine einstweilige Verfügung für den Erhalt, und aus Brüssel wurde ebenfalls Druck auf die Stadtverwaltung ausgeübt.

Wie steht es heute um die Madrider Luft?

Nirgends in Europa sterben so viele Menschen an schlechter Luft wie in Madrid. Dafür sind vor allem die Stickoxide verantwortlich, und die kommen hauptsächlich von Straßenverkehr. Deshalb wurde Madrid Central ja eingeführt.

Seit Mitte Dezember ist jetzt die neue Niedrigemissionszone in Kraft. Sie heißt „­Madrid 360“. Was halten Sie davon?

Das ist so etwas wie Madrid Central light. Das Gebiet bleibt das gleiche, die Regeln, für welche Umweltplakette wie gilt, bleiben gleich. Aber es dürfen rund 40 Prozent mehr Fahrzeuge – 60.000 Pkws und Lieferwagen – zusätzlich in die Innenstadt. Inhaber von Geschäften dürfen mit bis zu drei Fahrzeugen einfahren, bisher gilt das nur für die Anwohner. Außerdem haben sie das Recht, für bis zu 20 Fahrzeuge pro Monat eine einmalige Einfahr­erlaubnis zu beantragen. Hinzu kommt das Recht, Kinder mit dem Auto in die Innenstadt zur Schule zu bringen. Und Motorräder dürfen abends eine Stunde länger in die Innenstadt.

Bei Maßnahmen, die so stark in den Alltag eingreifen, ist es wichtig, die Bürger mitzunehmen. Wie hat sich das politische Hin und Her in diesem Fall ausgewirkt?

Viele Bürger wissen nicht mehr, was genau gilt. Die neue Stadtverwaltung hat in den letzten zwei Jahren ein riesiges Durcheinander geschaffen, indem sie Nachrichten und Statistiken erfanden. So erklärten sie zum Beispiel, dass Madrid Central die Luftverschmutzung in den angrenzenden Bezirken erhöht habe, obwohl die Mess­ergebnisse das Gegenteil zeigten: Auch außerhalb von Madrid Central ging die Luftverschmutzung um 10 Prozent zurück, da einfach weniger Menschen mit dem Auto in die Stadt kamen. Dann wurden die Kameras abgeschaltet, keine Bußgeld­bescheide mehr ausgestellt. Almeidas PP klagte gegen Madrid Central. All das schuf Verwirrung, und viele fuhren einfach wieder mit dem Auto in die Stadt. Hinzu kommt die Angst vor Covid-19 in den öffentlichen Verkehrsmitteln.

Wie gut wird heute kontrolliert? Lassen sich die Beschränkungen umgehen?

Es gibt Schlupflöcher. Wer von außerhalb kommt, kann – wenn die Umweltplakette stimmt – in ein Parkhaus und hat dadurch das Recht, in die Innenstadt zu fahren. Zu Beginn von Madrid Central machte dies kaum jemand. Ein Großteil der Bevölkerung sah die Vorteile der Verkehrsbeschränkung, akzeptierte sie und hieß sie für gut. Jetzt nach zwei Jahren Hin und Her ist es völlig normal.

taz-Serie Stadtverkehr

In vielen europäischen Städten wächst derzeit der Wunsch nach einer menschenfreundlicheren, weniger autozentrierten Verkehrspolitik. Mancherorts schreitet die Veränderung sehr schnell voran, woanders gibt es sehr große Probleme.

In einer kleinen Serie stellt die taz gute und schlechte Beispiele städtischer Mobilitätspolitik vor. Weitere Folgen: Berlin und Rom.

Es ist nicht damit getan, Teile der Stadt für Autos zu sperren. Es braucht echte Alternativen. Wie schneidet Madrid da ab?

In der Pandemie wurde der Fahrplan für Bus und U-Bahn ausgedünnt. Und Fahrradwege gibt es wenige. Die Stadtverwaltung redet immer wieder von vielen, vielen Kilometern. Aber der Großteil davon ist einem Radweg rund um die Stadt geschuldet. Der ist schön für Ausflüge. Aber im Alltag bringt er gar nichts.

Nach dem Lockdown benutzten viele Menschen das Fahrrad als Alternative zum ÖPNV, aus Angst vor Infektion. Das ist nicht mehr so?

Madrid hat eine große Chance vertan. Damals gab es so viele Fahrräder wie nie. Doch die Stadtverwaltung unterstützte diesen Trend nicht. Es gibt keine neuen Radwege, einige wurden gar abgeschafft. Madrid setzt darauf, bei mehrspurigen Straßen eine Spur auf 30 Stundenkilometer zu begrenzen und sie von Autos und Fahrrädern gemeinsam nutzen zu lassen. Die Autofahrer halten sich nicht daran. Radfahren ist einfach nicht sicher. Das ist das Problem.

Beim Thema Auto geht es also um mehr als nur die Luftverschmutzung. Ist der Umstieg auf E-Autos eine Lösung für Innenstädte?

Mit E-Autos entfällt ein Großteil der Luftverschmutzung und der Lärmbelastung. Aber andere Probleme bleiben. Auch E-Autos nehmen Platz weg. Auch E-­Autos sind ein Sicherheitsrisiko für andere, schwächere Verkehrs­teilnehmer. Das führt dazu, dass zum Beispiel Kinder in der Stadt nur wenige Freiräume haben.

Schlechte Nachrichten für all diejenigen, die glauben, dass in der Zukunft die Städte Terrain für E-Autos sein werden?

Ja. Die Zukunft sind autofreie Städte.

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