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Traditionen an Kinder weitergebenAls würde man fremde Schuhe tragen

An Feiertagen wie Weihnachten steht man plötzlich vor seinen Kindern und soll ihnen Traditionen beibringen. Nur was, wenn man keine hat?

Es ist der vierte Advent und der Kürbis brüllt mich jeden Tag an Foto: imago

M ein schlechtes Gewissen ist rund und orange. Es sitzt auf dem Fensterbrett in der Küche und wiegt eineinhalb Kilo. Es grüßt mich morgens, wenn ich aufstehe, und abends, wenn ich ein Glas Wasser hole. Mein schlechtes Gewissen ist ein Kürbis. Er liegt da seit Halloween.

Es überfällt mich jedes Jahr wie ein ungebetener Gast. Ich mag kein Verkleiden, kein Erschrecken und keine Schauergeschichten. Ich erschrecke mich schon zu Tode, wenn jemand unangekündigt ins Zimmer kommt. Früher hab ich mich zu Halloween totgestellt, was eine total akzeptable Reaktion sein sollte.

Doch seit ich Kinder habe, zerreißt es mir das Herz, wenn andere Kinder draußen im Dunkeln stehen und bei den sich Totstellenden klingeln. Also krame ich jedes Mal hektisch im Küchenschrank oder schicke SMS an den Mann: „Haben wieder Halloween vergessen, kauf was.“

Total unvorbereitet

Dieses Jahr wollte der Vierjährige selbst auf die Straße, weil er auf dem Heimweg Kinder gesehen hatte, die mit Erwachsenen und einem echten Pferd durch die Straße zogen. Ein verlässliches Zeichen, dass man wohlhabende Nachbarn hat. Wir waren total unvorbereitet. Auf das Pferd, aber auch auf Halloween.

Also warf der Kleine zu Hause sein Hundekostüm über und da er selbst keine Süßigkeiten mag, gingen wir raus, um welche zu verteilen. Das fand er toll. Nur meinte er danach, dass er gern Kürbis schnitzen würde. Ich versprach, dass wir das nachholen.

Jetzt ist der vierte Advent und der Kürbis brüllt mich jeden Tag an, was für eine schlechte Mutter ich bin. Ich entgegne, Halloween sei nicht meine Tradition. Doch was sind denn „meine Traditionen“? Früher machte ich, was andere sagten. Jetzt soll aber ich den Kindern sagen, was wir machen, und jedes Jahr zu ­Weihnachten fühlt es sich an, als würde ich fremde Schuhe tragen.

Die einzige Tradition, die wir haben, ist, dass wir zuverlässig vergessen, einen Ökobaum zu mieten, und dann lange überlegen, ob es okay ist, gar keinen zu haben. Und dass der Große jedes Jahr zu Nikolaus einmal übermütig in eine Erdnuss samt Schale beißt.

Ist das eine Lücke?

Wie fremde Schuhe, die man trägt, weil man keine eigenen hat. Vielleicht liegt es daran, dass ich erst als Schulkind getauft wurde, nachdem ich mit fünf zu meinem Vater gezogen bin. Vielleicht liegt es daran, dass ich aus der Kirche wieder ausgetreten bin. Vielleicht ist da eine Lücke, weil ich zum muslimischen Teil meiner Familie nie Kontakt hatte. Oder es liegt daran, dass das Jüdischsein meiner Familie mütterlicherseits kein Thema war und kaum darüber geredet wurde. Jüdische Traditionen gab es keine.

Meine Mutter und Oma hatten generell nicht viel übrig für Konventionelles, und meine Urgroßmutter feierte, soweit ich das aus der Ferne erkennen konnte, Weihnachten. Ich frage mich bis heute, ob es nach der Shoah für sie zu schmerzhaft war, über ihr Jüdischsein zu sprechen. Und, ob sie sich zu Weihnachten auch fühlte, als würde sie fremde Schuhe tragen.

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Saskia Hödl
Autorin
Jahrgang 1985, ist freie Autorin in Wien und schreibt über Politik, Medien und Gesellschaft. Ehemalige taz panter Volontärin, taz eins Redakteurin und taz2&Medien Ressortleiterin.
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2 Kommentare

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  • Diese Fragen beschäftigen mich auch hin und wieder.

    Manches am traditionellen Erleben in meiner eigenen Herkunftsfamilie finde ich großartig und übernehme es gern. Anderes ändere ich in eine "neue Tradition", die dann zu uns besser passt.

    Heiligabend war für mich als Kind immer ganz langweilig, da erst gegen 17.00 Uhr etwas passierte. ich ging zu meiner Oma, mit ihr in die Kirche, während zu Hause vorbereitet wurde.

    Dann kamen wir alle gemeinsam in eine gläzende Stube, unter dem üppigen Weihnachtsbaum lagen Geschenke, auf dem Tisch die Naschteller, es wurde gesungen.

    Für uns Kinder war es schade, dass wir den Baum nicht mitschmücken durfte; für meine Mutter war es großer Stress, alles in Windes Eile vorzubereiten.

    Bei uns ist das anders. 3 Tage vor Weihnachten darf der Baum schon stehen, natürlich und schön, wie er ist. 1 Tag vor Weihnachten oder an Heiligabend morgens dürfen die Kinder ihn schmücken.

    Die Bescherung ist gegen 14 Uhr im glänzenden abgedunkelten Raum. Dann bereiten zwei Erwachsene die Bescherung vor und der Baum bekommt die Beleuchtung. Der Rest der Familie ist Spazieren.

    Wir singen, öffnen gemütlich Geschenke, lachen, freuen uns in gemütlicher Atmosphäre. Dann gibt es Abendessen und einen Spaziergang, wenn alle anderen Menschen gerade unterm Baum sitzen.

    Den Abend verbringen wir oft spielend.

    Entstande ist diese Tradition mit der frühen Bescherung, weil meine Mutter lieber im Hellen zurück in ihr Zuhause fährt. Und allen geht es gut damit. Vor allem für die Kinder ist es schöner, nicht den ganzen Tag nur zu warten.

    Traditionen müssen auch "atmen" dürfen und es muss möglich sein, sich in ihnen wohl zu fühlen. Also zögern sie nicht, die Feiertage so zu gestalten, wie es für sie passt.

  • „An Feiertagen wie Weihnachten steht man plötzlich vor seinen Kindern und soll ihnen Traditionen beibringen. Nur was, wenn man keine hat?“



    Aber eines, scheint mir, ist auf eine jedenfalls für mich überzeugend kluge Art für den „kleinen Großen“ gut geworden. Er hat an einer Tradition teilgenommen. Er hat sie erlebt. Die Tür dazu wurde von den Eltern aufgemacht. Und also los im Hundekostüm als Halloween-Wolf in einer für den Brauch obendrein „innovativen Rolle“: Die Kinder beschenken sich untereinander auch. Hoffentlich werde ich hier nicht als belehrend gelesen. Das kommt mir gar nicht zu. Ich will sagen, wie ein sehr wichtiger „Aspekt“ des Textes spontan auf mich wirkt. Es geht für mich da gar nicht darum, ein Kind etwa in eine Tradition hineinzuzwingen. Mal sehen, wie der Junge das Erlebte für sich verarbeitet, was er davon hält. Welche "Schuhe" ziehe ich mir an? Welche nicht? Er hat eine Erfahrung mit etwas gemacht, was Tradition genannt wird. Die Möglichkeit ist ihm nicht vorenthalten worden. Er kann weitere Erfahrungen damit machen und wird „was daraus für sich machen“ können, so oder so. Da lassen ihn seine Eltern nicht allein damit. Weil sie ihn darin verstehen können, in gewisser Weise auch unabhängig davon, welchen Traditionen sie sich selbst verbunden sehen oder nicht. Sie begleiten ihr Kind trotzdem klug bei seinen Erlebnissen und Erfahrungen. Doch, das denke ich schon.