Ausstellung über Kindertransporte: „Wenigstens die Kinder retten!“
„Kinderemigration aus Frankfurt“ – die Ausstellung zeigt, wie jüdische Kinder den Nazis entkamen. Und wie schwer es war, Aufnahmeländer zu finden.
Weil Diskriminierung, rassistische und antisemitische Verfolgung von Juden in den 1930er Jahren in ganz Europa anstiegen, kam im Juli 1938 auf nordamerikanische Initiative die Konferenz von Évian zustande, auf der über Hilfe für und die Aufnahme von deutschen und österreichischen jüdischen Flüchtlingen beraten werden sollte.
An der Konferenz nahmen Vertreter von 32 Staaten und von 24 humanitären Hilfsorganisationen teil. Es gab zwar einige zahlenmäßig sehr bescheidene Angebote zur Ansiedlung von Juden – etwa in der portugiesischen Kolonie Angola oder in der vom Diktator Rafael Trujillo beherrschten Dominikanischen Republik, aber das einzige greifbare Resultat der Konferenz war die Gründung des „Comité d’Évian“, das den Auftrag erhielt, mit dem nationalsozialistischen Regime über die Auswanderungsmodalitäten zu verhandeln.
Angesichts der Zahlen gefährdeter, ausreisewilliger Juden in Deutschland und Osteuropa war das Ergebnis gleich null.
Das Deutsche Exilarchiv der Nationalbibliothek in Frankfurt zeigt momentan eine Ausstellung zur „Kinderemigration aus Frankfurt“. Zwischen November 1938 und dem Kriegsbeginn im September 1939 entkamen, hauptsächlich dank der Hilfsorganisationen, die die sogenannten „Kindertransporte“ betreuten, rund 20.000 Kinder der nationalsozialistischen Vernichtungsindustrie.
Rund 600 davon stammten aus Frankfurt, das mit rund 30.000 jüdischen Gemeindemitgliedern das Zentrum und den Ausgangspunkt für die Transporte bildete.
Regionale, jüdische und kirchliche Organisationen halfen
Für die Kindertransporte war ein ganzes Netz von Organisationen zuständig. Darunter die Abteilung „Kinderauswanderung“ in der „Reichsvertretung der Juden in Deutschland“, regionale Institutionen der jüdischen Gemeinden der Wohlfahrtspflege, das „Palästinaamt“ sowie Hilfsstellen der christlichen Kirchen sowie der Religionsgemeinschaft der „Quäker“.
Mitzureden hatten auch staatliche Ämter, die bürokratische Regeln aufstellten, Fragebögen verteilt, die Registrierung verwalteten und Gutachten über den Gesundheitszustand der Kinder verlangten. Die Einwanderungshürden waren in den einzelnen Ländern unterschiedlich, aber für Juden überall hoch und streng quotiert.
In Großbritannien etwa galt seit 1938 eine Visapflicht, in den USA dagegen eine Quote von 25.975 Personen, die zwar nie voll ausgeschöpft, aber auch nie erweitert beziehungsweise verringert wurde, was die Zahl der Einwanderer, die Bürgschaften für den Unterhalt der Eingewanderten oder die bürokratische Anforderungen betrifft.
Kinderemigration aus Frankfurt, Deutsches Exilarchiv der Deutschen Nationalbibliothek. Bis 15. Mai 2022, Katalog 24,90 Euro. Eintritt frei, Anmeldung erforderlich über www.dnb.de
In Palästina, einem bevorzugten Einwanderungsland, benötigten Einwanderer ein Zertifikat der britischen Mandatsregierung, das von deren Vermögen abhängig war. Solche Restriktionen erklären, warum für viele jüdische Eltern die Devise galt, „wenigstens die Kinder retten!“.
Die Trennung war meistens endgültig
Entgegen der Erwartungen von Kindern war die Trennung von Familie und Geschwistern und Freunden für die meisten Kinder nicht von kurzer Dauer, sondern endgültig, denn viele Kinder sahen ihre Eltern und erwachsenen Verwandten nie wieder, weil diese im Laufe des Krieges verhaftet, deportiert und schließlich ermordet wurden.
Die Ausstellung dokumentiert das Exil von sechs Kindern mit Fotos, Briefen von und an Angehörige, Ausweisen und anderen Dokumenten sowie mit Filmen zu Interviews mit Überlebenden.
Während der vorzügliche Katalog zur Ausstellung die historischen Umstände und Bedingungen, unter denen die Transporte stattfanden, detailliert nachzeichnet, illustrieren Ausschnitte aus Graphic Novels sowie Comic-Zeichnungen verschiedener Künstler die Biografien der sechs exemplarischen Kinderschicksale.
Rund 600 Fälle aus Frankfurt belegt
Allein aus Frankfurt sind ab November 1938 rund 600 Fälle quellenmäßig belegt. Die Interviews mit Überlebenden, wofür sich vor allem der „Verein Jüdisches Leben in Frankfurt“ engagierte, bilden unverzichtbare Dokumente für die historische Forschung und sichern die Kontakte zu Zeitzeugen.
Die Kinder standen in der fremden Umgebung unter erheblichem Anpassungsdruck und hatten Sprachprobleme in den Aufnahmeländern und Pflegefamilien. Die Trennung von der Familie und den Geschwistern prägte das Leben der Kinder über die Zeit des Exils hinaus, in den meisten Fällen lebenslang.
Karola Ruth Siegel, die nach ihrer Heirat Ruth K. Westheimer hieß, in Paris und in den USA studierte und eine beachtliche Karriere als Soziologin und Sexualtherapeutin machte, die mit der Magnus-Hirschfeld-Medaille ausgezeichnet wurde, beschrieb den Schrecken, der sie noch im hohen Alter befällt, wenn sie das fürchterliche Wort „verschollen“ hinter dem Namen ihrer Mutter liest.
Die Briefe von Eltern an ihre Kinder handeln von Banal-Alltäglichem, zeugen aber auch von liebevoller Fürsorge und Herzlichkeit, die den Kindern wohl über Trennungsangst hinweghelfen und elterliche Schuldgefühle verbergen sollten.
Entschädigungsprozesse verliefen bürokratisch
Die dokumentierten sechs Frankfurter Kinderleben von Renate Adler, Elisabeth Cavelli-Adorno, Lina Liese Carlebach, Josef Einhorn, Lili Fürst und Karola Ruth Siegel verliefen sehr unterschiedlich, hatten jedoch dem gemeinsamen Schicksal zu trotzen, dass aus der als temporär verstandenen Trennung eine unwiderrufliche wurde.
Die Versuche der erwachsen gewordenen Kinder, nach dem Krieg Entschädigungen für das erlittene Leid und den Verlust ihrer Angehörigen zu erstreiten, verliefen in vielen Fällen in beschämend langwierigen und unberechenbaren Bearbeitungszeiten der bundesrepublikanischen Wiedergutmachungsbürokratie.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Social-Media-Verbot für Jugendliche
Generation Gammelhirn