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Falscher Vergleich der AmpelkoalitionMehr Geschichte wagen

Kommentar von Klaus Hillenbrand

2021 ist nicht 1969: Warum Olaf Scholz’ Ampelkoalition mit dem sozialliberalen Bündnis unter Willy Brandt nicht zu vergleichen ist.

Zwei Kanzler, die was wagen wollen, Olaf Scholz am 6. Dezember in der SPD-Zentrale in Berlin Foto: Michael Kappeler/dpa

M an kann die Ampelkoalition aus demokratietheoretischer Sicht begrüßen, weil damit eine 16-jährige Dominanz der Union gebrochen wird. Man kann das neue Bündnis auch aus inhaltlichen Gründen gutheißen, etwa weil dadurch die Klimapolitik endlich vorankommt und veraltete gesellschaftspolitische Zöpfe abgeschnitten werden. Man kann die Koalition auch deshalb begrüßen, weil keine großen außen- und finanzpolitischen Experimente zu erwarten sind.

Nur eines kann man nicht: dieses Bündnis im Jahr 2021 in direkte Beziehung zum Beginn der sozialliberalen Koalition im Jahr 1969 setzen. Das wäre unhistorisch.

Gegen einen solchen Bezug sprechen formale wie inhaltliche Differenzen. Auch wenn die heutigen Ampelkoalitionäre ihr Bündnis rhetorisch in den hellsten Farben beschreiben und gar schon über eine Fortsetzung philosophieren: Tatsächlich handelt es sich um einen nicht unerwarteten Machtwechsel in einer gefestigten Demokratie ohne Bruch eines Tabus.

Eine Regierung wird ausgewechselt, wie dies schon mehrfach in der Geschichte der Bundesrepublik geschehen ist. Ein neuer Bundeskanzler kommt in die Verantwortung. Wirklich neue ist nur die formale Konstellation, denn ein Dreierbündnis hat es auf Bundesebene bisher nicht gegeben.

1969 war ein Wendepunkt

Dagegen 1969: Vor 52 Jahren brachen für die noch junge Bundesrepublik Gewissheiten zusammen, wurden Tabus abgeräumt, entstand etwas gänzlich Neues. Das Jahr war für die Parteiendemokratie deswegen ein Wendepunkt, weil zum allerersten Mal seit Gründung des Staats die CDU/CSU nicht länger als stärkste (Doppel-)Partei die Regierung stellte. Die Konservativen hatten es über 20 träge Jahre erfolgreich vermocht, sich ein Exklusivrecht der Macht zu sichern und zugleich die Sozialdemokraten von der Kanzlerschaft auszusperren.

Die Methoden waren dabei keinesfalls immer fein, stellten CDU/CSU-Politiker die SPD doch als eine Partei dar, die, sollte sie jemals die Verantwortung übernehmen, Wohlstand, Sicherheit und die vorgeblich guten Sitten in eminente Gefahr bringen würde. Deshalb wurde mit der Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler ein Tabu gebrochen, das es 2021 glücklicherweise nicht mehr gibt.

Der Wahlkampf 2021 dagegen? Ein manierliches Schaulaufen. Auch inhaltlich war der Beginn der sozialliberalen Ära eine mit der Aufstellung der Ampel unvergleichliche Angelegenheit. Damals ging es darum, das durch Gesetze verankerte Gesellschaftsmodell an die Realität anzupassen, sei es im Bereich der Rechte für Schwule, für Frauen oder etwa bei der Verweigerung der Wehrpflicht. Das konservative Spießertum schrie entsprechend Zeter und Mordio, als SPD und FDP daran gingen, die alten Zöpfe abzuschneiden.

Anerkennung der Oder-Neiße-Linie kein Thema mehr

Zwar tut sich auch 2021 ein Reformstau in diesem Bereich auf, etwa bei der Anerkennung diverser Familienverhältnisse, aber dieser ist doch unvergleichbar geringer. Schließlich war es Scholz' Vorgängerin Angela Merkel, die mit der Modernisierung der CDU dafür gesorgt hat, dass einige wesentliche Veränderungen schon unter Führung der Union umgesetzt worden sind.

Gänzlich fehl geht der Vergleich zwischen 1969 und 2021 bei der Außenpolitik, die am Ende der konservativen Herrschaft in der Bundesrepu­blik von der Nichtanerkennung der Resultate des durch die Deutschen ausgelösten Zweiten Weltkriegs geprägt war. Diese Probleme von der Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens bis zur Umsetzung pragmatischer Beziehungen zur DDR haben sich durch den Zeitenwandel inzwischen aufgelöst.

Dazu bedurfte es freilich nicht nur der Entspannungspolitik Willy Brandts, sondern auch des Zusammenbruchs der DDR wie des Ostblocks, nicht zu vergessen der Einigung Europas in der EU.

Und so ließe sich die Liste der unvergleichlichen Vergleiche fortsetzen. In der Bildungspolitik, wo 1969 ein dem Ständestaat entsprungenes System dafür sorgte, dass Arbeiterkinder hübsch Arbeiter blieben, das Land heute aber vor ganz anderen, damals noch unbeachteten Herausforderungen steht, wenn es etwa um mehr Chancengleichheit für Migranten geht.

Oder der Verkehrspolitik, wo der versprochene Autobahnanschluss in unmittelbarer Umgebung eines jeden Wohnorts im ganzen Land tatsächlich mit Fortschritt gleichgesetzt wurde und wo es heute darum geht, die (auch unter Brandt) vernachlässigte Schiene endlich konkurrenzfähiger zu machen.

Mit der Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler wurde ein Tabu gebrochen, das es im Jahr 2021 nicht mehr gibt

Der Vergleich von Olaf Scholz’ „Mehr Fortschritt wagen“ mit Brandts Versprechen, mehr Demokratie wagen zu wollen, beleidigt den intellektuellen Sachverstand. Wie bitte kann man Fortschritt überhaupt „wagen“, ist es doch ein Prozess, der system­imma­nent ist?

Das Wagnis bezieht sich maximal auf die Frage, ob der prognostizierte Fortschritt eine sinnvolle, unsinnige oder sinnentleerte Angelegenheit ist. Sind mehr Autobahnen fortschrittlich? Oder mehr Windräder? Das hängt ganz vom Urteil des Betrachters ab.

Mehr Demokratie zu wagen, das bedeutet eine verstärkte Partizipation des Einzelnen an Entscheidungsprozessen. Genau das möchten die Ampelkoalitionäre in bestimmten Fragen wie Genehmigungsverfahren für klimarelevante Vorhaben übrigens abbauen, um die Zeit bis zur Umsetzung dieser Pläne zu verkürzen – ein Vorgehen, das für das Klima durchaus förderlich sein kann, aber gewiss nicht für die Demokratie.

1969, das war ein Ausbruch, der sich auch in hitzigen gesellschaftlichen Debatten manifestierte, mit wütenden, ja verletzenden Äußerungen von Konservativen und überschwänglichen, ja euphorischen Reaktionen von Liberalen und Linken.

Der Regierungswechsel 2021 dagegen wird in weiten Teilen der Gesellschaft als das betrachtet, was er ist: Routine. Und das ist auch gut so, beweist dies doch, dass die Bundesrepublik und ihre Bewohner es inzwischen verstehen, mit Machtwechseln in der Politik umzugehen.

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taz-Autor
Jahrgang 1957, ist Mitarbeiter der taz und Buchautor. Seine Themenschwerpunkte sind Zeitgeschichte und der Nahe Osten. Hillenbrand ist Autor mehrerer Bücher zur NS-Geschichte und Judenverfolgung. Zuletzt erschien von ihm: "Die geschützte Insel. Das jüdische Auerbach'sche Waisenhaus in Berlin", Hentrich & Hentrich 2024
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4 Kommentare

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  • Der Vergleich mit 1969 und Willy Brandts Reformpolitik ist geradezu eine Beleidigung der 68er - Aktivisten, insbesondere wenn wir uns an den ziemlich unpolitischen Wahlkampf 2021 erinnern, der die Klimakatastrophe geradezu leugnet und mitverantwortlich war für das gerade herrschende Pandemie-Dilemma. Natürlich brauchen wir auch heute MEHR DEMOKRATIE, was aber von der FDP-beeinflußten Koalition und einer eher bürgerlichen grünen Partei kaum zu erwarten ist.

  • Man schaue auf die Bilder, die darin auffindbaren Zitate.



    Wir haben es mit einer sehr gekonnten Inszenierung zu tun. Die geborenen Profis des Selbstmarketings sind da am Werk.



    Ebenso sind die historischen Referenzen zu werten: Als Marketing, das nur deshalb funktioniert, weil eine große Mehrheit der Bevölkerung die gesellschaftlichen Konflikte und Blockaden, die unter Brandt partiell abgeräumt wurden, gar nicht mehr einzurodnen weiß. Brandt ist ist eine Ikone und so wird er in diesem Zusammenhang auch genutzt. Che Guevarra ist ja inzwischen auch nicht mehr als ein modisches Accessoire. Brandt degeneriert zum politischen Accessoire, zur Anstecknadel am Revers derjenigen, die sich Fortschrittlichkeit und Offenheit auf's Panier geschrieben haben.

  • Liggers & Willys “Blauer Himmel über der Ruhr!“



    Unvergessen.

    unterm—— servíce historique -



    Onkel Herbert - war striktemang dagegen:



    “GROKOTZ - Weiterso wagen!“



    Mit Backpfeife Alt-Nazi Häuptling Silberlocke Kurt Kiesinger!



    & der noch für uns Annalenaselfie von AA =>



    “Ich sage nur Kina Kina Kina!“ (Spätzles “Deutsch“;)) 🧹 But!



    & Däh => the time yes but then they are changing (Hobo Bob) =>



    m.youtube.com/watch?v=v7NpiQl89oU



    Kurt Georg Kiesinger: Der umstrittene Kanzler I Geschichte



    & F.S.K. - laßt gehn =>



    “Eine Ohrfeige für Kurt Kiesinger“



    m.youtube.com/watch?v=bWf81rPFk6w



    & Beate Klarsfeld the story =>



    m.youtube.com/watch?v=av03yuBM2Mc



    Portraits "femmes de paix" présentés par l’Institut National de l’Audiovisuel - Beate Klarsfeld



    & die Ohrfeige +=>



    www.deutschlandfun...nger-eine-100.html



    & “Die Szene wird zum Tribunal“ - Klatsch! 👋



    www.rotfuchs.net/f...F220/rf220-015.jpg

    So geht das •

  • 0G
    05989 (Profil gelöscht)

    Das glorifiziert mir 1969 zu sehr - ich bin zwar in dem Jahr erst geboren worden, aber in der Rückschau würde ich sagen, dass die Leute auch damals die unwählbaren Roten gewählt haben, weil sie von den noch unwählbarereren Schwarzen die Schnauze voll hatten. Das dritte Reich lag immer noch wie Mehltau auf Deutschland, während außerhalb Revolutionen stattfanden.

    Ich seh' auch keinen großen Unterschied in der Bildungspolitik - die hat wieder mehr mit 1969 zu tun als mit 1975 etwa. Erst recht gilt das für die Verkehrspolitik nach drei CSU-Verkehrsministern...

    Die FDP war 1969 vielleicht nicht ganz so unberechenbar...

    Aber einen Unterschied gibt es wohl, den ich hier schmerzlichst vermisst habe: Herbert Wehner! Und zwar nach innen, nach außen und überhaupt.



    Es fehlen der SPD des 21. Jahrhunderts die Köpfe: Egon Bahr, Hermann Scheer, Oskar Lafontaine - die Diener des Staates, die sich lieber eine Hand abhacken würden, als schwiemelige Maskendeals einzufädeln.

    Da kann ich in der SPD von heute kaum noch Unterschiede zur Union erkennen... Olaf Scholz und Lars Klingbeil gehören in die Totengräberriege mit Schröder, Müntefering, Clemens und dem pfeiferauchenden Herzinfarkt.