Buch „Das Haus des Paul Levy“: Sechs Stockwerke Vergangenheit
Michael Batz erzählt die Lebensgeschichten von rund 50 Menschen, die seit 1921 in dem Haus in der Hamburger Rothenbaumchaussee 26 gelebt haben.
Michael Batz liest eine E-Mail vor: Sabine Falkenberg hat von seinem neuen Buch über das Wohnhaus in der Rothenbaumchaussee mit der Nummer 26 erfahren – und ihm geschrieben. Denn die Schauspielerin, die eine Zeit lang bei seinem „Jedermann“-Projekt in der Hamburger Speicherstadt dabei war, bevor sie nach Berlin ging, hat selbst mal in dem Haus gewohnt: von 1987 bis 1989, als sie zur Schauspielschule ging, als Mitbewohnerin zweier Professoren, denen die Wohnung Erdgeschoss rechts ein wenig zu groß war. Und ihre erste Hamburger Liebe damals? Ein Klarinettist!
„Das ist nicht erfunden, und das ist schon ein wenig crazy, was es an Zufällen gibt“, sagt Michael Batz und steckt sein Handy weg. Das muss jetzt kurz erklärt werden: Ohne eine Klarinette wäre sein wuchtiges, sein so fundiertes, sein so ausuferndes wie sich immer wieder fokussierendes Buch womöglich nie erschienen. Eine Klarinette wurde schließlich 1987 bei Arbeiten im Dachgeschoss unter den Bodendielen gefunden, sorgsam eingepackt. Bis heute hat Batz nicht ermitteln können, wem dieses Instrument, das aus der jüdischen Musik nicht wegzudenken ist, einst gehört hat. Und warum es unter den Dielen verborgen wurde: um es zu verstecken? Zu schützen? Oder beides?
Batz, Lichtkünstler, Theatermann und immer wieder Rechercheur, hat sich in den vergengenen Jahren das dunkle, backsteinerne Wohnhaus vorgenommen, für dessen Erbauung sich im Jahr 1921 gutbürgerliche Geschäftsleute, meist im liberalen Judentum verankert, zusammenschlossen: Ein genossenschaftliches Bau- und Wohnprojekt wollten sie gründen plus eigener Kapitalgesellschaft. Hauptinitiator war der Privatbankier Paul Levy, der später im zweiten Stock links wohnte; einer der Kreditgeber damals die M. M. Warburg-Bank, die auch an Wohnungen für ihre Prokuristen dachte.
Wohnung für Wohnung, Stockwerk für Stockwerk und vor allem Jahr für Jahr folgt Batz dem Leben des Hauses, hat dafür in Archiven aller Arten förmlich gegraben, hat auch einige noch lebende Zeitzeugen getroffen. Nun folgen wir in 100 Kapiteln den Lebensläufen von gut 50 Bewohner:innen. Dafür treten diese immer wieder vor die Tür, gehen hinaus in die Stadt, leben ihren Alltag, kehren später zurück und schalten das Licht an. Sie machen Hausmusik, sie spielen Schach, sie werden krank, sie genesen. Möbelpacker kommen und gehen, schwere Schränke und Klaviere werden geschleppt, auch Gemälde-Sammlungen werden transportiert – „und Särge“, sagt Batz.
Michael Batz: „Das Haus des Paul Levy – Rothenbaumchaussee No. 26“, Dölling und Galitz 2021, 560 S., 32 Euro
Draußen wird die Erde aufgewühlt und die U-Bahn-Linie U1 gelegt; fast genau gegenüber im Curio-Haus werden ausgelassene Künstler-Feste gefeiert; die Weltwirtschaftskrise kommt, die Zeiten bessern sich wieder, doch die Gegenkräfte der jungen Republik geben nicht auf: Auf der nahen Moorweide wechseln sich die Demonstrationen ab, die Anhänger der NSDAP werden zahlreicher, immer unverfrorener, bis sie im Fackelschein auch durch die Rothenbaumchaussee ziehen; manche der Bewohner:innen schauen da nach ihren Koffern, breiten Landkarten aus.
Sehr umsichtig führt Batz so durch die Jahre, einen Roman aus Tatsachen, so nennt Batz sein Buch. „Man muss sehr konkret werden, in die Details gehen, detailversessen werden; es reicht nicht, eine Häufung von Klischees zu bieten oder allgemeines Wissen noch einmal zu wiederholen, sondern man muss fragen: Wer war wann genau wie warum vor Ort?“, sagt er. Jede Spur führt dabei zu einer nächsten Spur, jeder Fund löst eine nächste Suche aus. Allein, was sich links und rechts des Weges findet, weil Batz nun mal genau geschaut hat, ist enorm.
Etwa die Geschichte des Modehauses Peek & Cloppenburg, in dessen Filiale am nahen Rödingsmarkt ab dem Frühjahr 1933 sich der SA-Mann, der HJ-Pimpf und später der SS-Scherge vom Stiefel bis zur Mütze komplett einkleiden konnte, wie Batz kurz anreißt.
Oder die Geschichte der Hamburger Staatsoper, die auf ihrer Homepage zu ihrer Geschichte während der NS-Jahre bis heute lediglich erwähnt, dass 1943 bei einem Bombenangriff der Zuschauerraum völlig zerstört wurde, das Haupthaus aber unbeschädigt blieb. Und Batz, der so ruhige Chronist, dem aufgeregte moralisch-politische Appellationen fremd sind, wird ausnahmsweise fast laut: „Die sind ja der Wehrmacht hinterhergefahren“, sagt er. „Die Fronttheater, ob das Thalia Theater, die Staatsoper, auch die Tanzkompagnie 'Lola Rogge’, die sind durch Frankreich getingelt, zur Heeresbelustigung.“
Sozusagen Protagonistin dieser Praxis ist die seit 1934 an der Staatsoper engagierte Kammersängerin Gusta Hammer, die bald im Dachgeschoss der 26 wohnt, dass von Anfang an als Atelier für Künstler vorgesehen war. Die sich später einerseits um ihren Pianisten Wilhelm Freund sorgt, dem die Nazis den Status eines „Halbjuden“ zugeschrieben haben und die andererseits zur Stelle ist, wenn Konzerte und Liederabende gegeben werden sollen, um die womöglich gedrückte Stimmung angesichts des Kriegsverlauf wenigstens für einen Abend zu heben – noch im März 1945 ist sie für einen Wagner-Abend besetzt und für Lazarettveranstaltungen eingeplant.
Ein so ganz anderes Schicksal droht dem Kaufmann Richard Behr aus dem vierten Stock rechts, auch hier spielt der Zufall, wenn man so will, schließlich eine bemerkenswerte Rolle: Denn Behr, 1943 aus dem KZ Fuhlsbüttel wieder entlassen, flieht eines Tages aufs Land, findet bei einem Bauern nahe Itzehoe Unterschlupf.
Nur dass schon bald seine Schwiegertochter ebenfalls hier aufschlägt, mit ihren Kindern. Unmöglich, dass er sich seinen Enkelkindern zeigt, zu groß die Gefahr, dass sich die Kinder verplappern, so den jüdischen Großvater verraten. Und Richard Behr bleibt in seinem Kellerversteck, hört über sich die Kinderstimmen, wie sie näher kommen, wie sie sich entfernen, ein ganzes Jahr lang. Was also für eine Geschichte innerhalb der Geschichte, was auch für ein Erzählstoff, den Batz in nur wenigen Zeilen kurz anreißt, weil die auf Fakten beruhenden Geschichten und Erlebnisse Jahr um Jahr und Bewohner:in für Bewohner:in ihm über die Schulter schauen und jeweils zumindest angerissen werden wollen.
Anreiz zum Selbstforschen
Sehr lesenswert ist auch ein ausführliches Interview über den Entstehungsprozess, das Batz mit seinem Verleger Robert Galitz geführt hat und einen guten Einstieg bietet. In dem berichtet Batz, wie mühsam und auch von Geschick und Zufall abhängig der Rechercheerfolg oft war und oft noch ist; wie man ihm vor der Jahrtausendwende lange die Einsicht in Akten schlicht verwehrte oder welchen Schaden es zuletzt angerichtet hat, als im Hamburger Staatsarchiv im Sommer 2018 fast eine Million Dokumente wie ärztliche Todesbescheinigungen für immer vernichtet wurden. Was ein Glück, dass Batz da schon viele dieser Unterlagen für seine Recherchen ausgewertet hatte, die oftmals unverblümt, weil nüchtern, über das Ende eines Menschenlebens Auskunft geben.
Batz ist überhaupt weit davon entfernt, ein Ende der Aufarbeitungsarbeit der NS-Jahre zu sehen. Im Gegenteil: „Vielleicht gibt es ja nun andere, die anfangen die Geschichte ihres Hauses, in dem sie leben, zu erforschen“, sagt Batz mit Blick auf seine Arbeit. Besonders die Eigentumsverhältnisse von Wohnungen, Häusern, Gebäuden und auch Unternehmen seien oft noch gänzlich unerforscht. Und er legt die Hand auf das Buch und sagt, als sei eine gewisse Last von ihm gefallen: „Das Buch ist jetzt in der Welt; mal schauen, wer was damit anfangen wird.“
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