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Flüchtlingspolitik im ÄrmelkanalSchulterschluss der Rechten

Dominic Johnson
Kommentar von Dominic Johnson

Großbritanniens Flüchtlingspolitik ist humaner als in weiten Teilen der EU. Dafür hagelt es Kritik von rechts. Frankreich macht zusätzlich Druck.

„Attraktivität“ verringern? Rettungsboot der Royal National Lifeboat Institution am 24.11.2021 Foto: Henry Nicholls/reuters

W er hätte das gedacht: Keine zwei Jahre nach dem Brexit, der angeblich Großbritan­niens nationalistische Abschottung besiegelte, fordert Frankreich den Nachbarn dazu auf, seine „Attraktivität“ für Flüchtlinge zu verringern. Denn egal wie viele Zehntausend Menschen aus Irak, Syrien, Somalia, Sudan, Afghanistan und Iran über den Ärmelkanal auf die Insel wollen – immer mehr kommen nach und setzen Frankreich unter Zugzwang. Hält Frankreich die Flüchtenden auf, muss es selbst mit ihnen klarkommen.

Lässt es sie ziehen, bricht es die geltenden Grenzabkommen. Kein Wunder, dass Frankreich jetzt fordert, Großbritannien möge sich endlich so abweisend zeigen, wie man es selbst schon ist. Großbritannien ist das letzte Land Europas, das noch Seenotrettung betreibt. Über 25.000 Menschen haben es allein dieses Jahr über den Ärmelkanal geschafft.

Sie wurden fast alle von den Seenotrettern der Royal National Lifeboat Institution (RNLI), die im Auftrag der britischen Küstenwache gefährdete Menschen aus dem Meer fischen, beim Erreichen britischer Gewässer auf die eigenen Boote genommen und an die südenglische Küste gebracht – oder auch gleich von der Küstenwache selbst. Das hat unzählige Menschenleben gerettet. Für das, was die RNLI mit staatlichem Segen im Ärmelkanal tut, kommen Retter in EU-Ländern vor Gericht.

Und alle, die in Großbritannien ankommen, landen sofort in regulären Asylverfahren, nicht in Horrorlagern wie auf den griechischen Inseln oder auf der Straße wie in Frankreich. Die britische Rechte wütet dagegen schon seit Jahren, Innenministerin Priti Patel will die Seenotrettung verbieten, wogegen sich die RNLI bislang erfolgreich wehrt. Jetzt liefern die Forderungen aus der EU Patel eine Steilvorlage. Es droht ein Schulterschluss zwischen London, Paris und Brüssel auf Kosten von Nichteuropäern.

Wenn das gelingt, werden Tragödien wie die von vergangener Woche zum Normalzustand im Ärmelkanal, so wie bereits im Mittelmeer. Für die EU wäre das ein Erfolg. Für Europa und seine Werte ein Verrat.

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Dominic Johnson
Ressortleiter Ausland
Seit 2011 Co-Leiter des taz-Auslandsressorts und seit 1990 Afrikaredakteur der taz.
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5 Kommentare

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  • "Denn egal wie viele Zehntausend Menschen aus Irak, Syrien, Somalia, Sudan, Afghanistan und Iran über den Ärmelkanal auf die Insel wollen – immer mehr kommen nach" - ganz genau, und genau diesen sich selbst verstärkenden Trend wollen die Briten umkehren, weil sie als souveräner Staat verständlicherweise selbst bestimmen wollen, wer nach welchen Einwanderungsregeln ihre Inseln betritt und sich das nicht von anderen diktieren lassen wollen.

    Ich glaube indes nicht, dass Patel die Seenotrettung verbieten will. Ähnlich wie bei der Situation im Mittelmeer geht es nur um die Frage, wohin die Geretteten gebracht werden sollen. Es wäre lächerlich zu behaupten, dass Frankreich keine sicheren Häfen hat.

  • "Großbritannien ist das letzte Land Europas, das noch Seenotrettung betreibt." - das ist natürlich nicht wahr, oder hat die DGzRS den Betrieb eingestellt? Auch für Frankreich gehe ich jede Wette ein, dass ein Notruf von See nicht ignoriert.

  • 0G
    06438 (Profil gelöscht)

    In Asyldebatten werden Statistiken oft aus dem Zusammenhang gerissen, um einen politisch motivierten Punkt zu untermauern oder um den Kulturkrieg der Regierung gegen Asylbewerber anzuheizen.

    Die wichtigsten Daten zum britischen Asylsystem im Kontext:

    -13.210. Die Zahl der Menschen, denen das UK im Jahr bis September 2021 Schutz durch Asyl gewährt hat. Deutlich niedriger als vor März 2020 - & nur ein Bruchteil der 80.000, die jährlich vor dem Jahr 2016 kamen.

    -64 %. Der Anteil der Asylerstanträge, die im Jahr bis September 2021 erfolgreich waren. Diese Quote ist in den letzten Jahren gestiegen. Darüber hinaus wird fast die Hälfte der erfolglosen Anträge im Berufungsverfahren bewilligt.

    17. UK im Vergleich zu den EU-Ländern in Bezug auf die Anzahl der Asylanträge, die es erhält, bereinigt um die Bevölkerung:

    Die Pro-Kopf-Rate von Asylanträgen im UK beträgt lediglich die Hälfte des EU-Durchschnitts. Deutschland hat im Jahr bis MÄRZ 2021 allein 122.015 Asylanträge erhalten;



    Frankreich, 93.475.

    86 %. Der Anteil der Flüchtlinge weltweit, die in einkommensschwachen Nachbarländern ihres Herkunftslandes leben. Ein sehr kleiner Teil entschließt sich, nach Europa zu reisen. Im UK leben nur



    1 % der 26,4 Millionen Flüchtlinge, die weltweit aus ihrem Heimatland vertrieben wurden.Die Hälfte der Flüchtlinge weltweit ist unter 18 Jahre alt.

    39,63 €. Der Betrag, den Asylsuchende pro Woche zum Lebensunterhalt in UK erhalten. In Frankreich sind es 42,84 £ und in Deutschland 65,63 £. In Deutschland dürfen sie ab Antragstellung 3 Monate arbeiten, in Frankreich sind es 6 Monate. Im UK dürfen sie überhaupt nicht arbeiten, unabhängig davon, wie lange die Bearbeitung ihres Antrags dauert trotzdem ..

    ...83.733 die Zahl der Personen, die Ende September 2021 auf eine Erstentscheidung über ihren Asylantrag warten ist gewaltig gestiegen. Die Verzögerungen im Asylsystem haben seit 2018 um mehr als 41% rasant zugenommen.

    Brexit means Brexit.

  • Menschenrechtsorganisationen beobachten in Großbritannien immer wieder Pushbacks. Bei diesen werden nicht wirklich seetaugliche Boote nahezu ohne Treibstoff ins offene Gewässer zurückgestoßen. An einigen Stränden türmen sich dementsprechend bereits Baby- und Kinderbekleidung. Das ist alles, was von diesen Menschen überbleibt, nachdem Sie direkt mit Großbritannien in Kontakt gekommen sind. So gesehen können die Menschen sich entscheiden, ob Sie durch Uran-Munition der ehemaligen Kolonialmächte in Ihren Heimatländern qualvoll sterben oder doch lieber auf der Flucht vom selbigen Machtblock ermordet werden wollen.

    Traurig aber wahr, neben Nordamerika, Großbritannien und Frankreich ist Deutschland ebenso wie zahlreiche andere ehemalige Kolonialmächte nach wie vor ein Hauptakteur bei allen Rohstoffkriegen. Flüchtlinge werden durch die ehemaligen Kolonialmächte nicht gerettet, sondern primär von Ihrem eigenem Land vertrieben.

    Wer im Zusammenhang mit Großbritannien, seinem Commonwealth und seiner Kolonialgeschichte den Begriff human oder humaner verwendet, wirkt auf mich nicht mehr seriös!

  • Auch ich bin zusammengezuckt, als ich (Le Monde) las, wie sich Macron "en même temps" für Menschlichkeit und für Frontex aussprach.

    Irgendwie machen unsere Innenministerien derzeit die Politik der AfD/Lega/RN oder wie all diese schrecklichen Vereine heissen.