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Journalist aus Nicaragua über Zensur„Keine unab­hängigen Stimmen“

Die wichtigsten Medien sind geschlossen worden, die Opposition sitzt im Gefängnis. Investigativ­journalist Carlos Fernando Chamorro erklärt seine Arbeit im Exil.

Journalist Carlos Fernando Chamorro Foto: Oswaldo Rivas/reuters
Ralf Leonhard
Interview von Ralf Leonhard

taz am Wochenende: Herr Chamorro, seit Juni machen sie Journalismus aus dem Exil. Wie funktioniert das?

Carlos Fernando Chamorro: Das kann ich eigentlich nicht beantworten, denn damit würde ich unsere Netze offenlegen. Nur so viel: Es funktioniert dank des Internets und der sozialen Medien. Unsere Redaktion befindet sich in Costa Rica. Ich musste ja im Juni zum zweiten Mal ins Exil gehen. Es ist immer schwieriger, weil die Meinungsfreiheit in Nicaragua immer stärker unterdrückt wird. Es gibt praktisch keine unabhängigen Stimmen, die wir zitieren können. Die meisten sind im Gefängnis oder im Exil: Ökonomen, Anwälte, Ärzte, Priester. Kaum jemand will mit Namen genannt werden. Wir müssen die Identität unserer Informanten schützen. Viele Leute fürchten Repressalien und sagen lieber gar nichts. Es gibt mehrere Fälle von Leuten, die nach öffentlichen Äußerungen verfolgt wurden.

Im Interview: Carlos Fernando Chamorro

geboren 1956 in Managua, Nicaragua, ist Investigativjournalist und der jüngste Sohn des 1978 im Auftrag des Diktators Somoza ermordeten Verlegers Pedro Joaquín Chamorro. Während der Sandinistischen Revolution (1979–1990) leitete er das sandinistische Parteiblatt Barricada. Nach der Abwahl der Sandinisten und während der Präsidentschaft seiner Mutter Violeta Barrios de Chamorro (1990–1997) wollte er die Barricada in eine professionelle Zeitung umwandeln, 1994 wurde er gefeuert. Seither gibt er das unabhängige Online­medium Confidencial heraus und produziert politische Fernsehbeiträge. Die Redaktion von Confidencial wurde nach dem Aufstand gegen Staatschef Ortega 2018 von der Polizei gestürmt und das Gebäude beschlagnahmt. Im vergangenen Juni konnte Chamorro der Festnahme entgehen und flüchtete ins Exil nach Costa Rica.

Können Sie da ein Beispiel nennen?

Miguel Mendoza ist eigentlich ein Sportjournalist, der sich aber politisch in sozialen Medien äußert. Er wurde im Juni wegen „Akten gegen die Souveränität und Unabhängigkeit“ verhaftet. Dafür wurde eigens ein Gummiparagraf in einem neuen Gesetz geschaffen. Der Politologe José Antonio Peraza hat mir an einem Sonntag ein Interview gegeben, in dem er feststellte, dass die Wahlen vom 7. November nicht die Voraussetzungen für eine Beteiligung der Opposition bieten würden. Am Abend haben sie ihn festgenommen und eine Anzeige wegen Hochverrats konstruiert. Die Menschenrechtsanwältin María Oviedo sitzt im Gefängnis, weil sie politische Gefangene verteidigt und ihre Meinung über die Prozesse geäußert hat.

Sie hatten bis vor Kurzem die erfolgreiche Fernsehsendung „Esta Semana“, in der politische Analysen mit Experteninterviews verknüpft wurden. Wie geht es damit weiter?

Meine Fernsehsendungen sind de facto verboten. Kein Kanal wagt es, sie zu bringen. Sie werden mit Sperrungen bedroht. Da braucht es gar keine offene Zensur. Ich veröffentliche „Esta Semana“ jetzt bei Youtube und Facebook. Auf Youtube haben wir mehr als 320.000 Abonnenten, davon leben mehr als 70 Prozent in Nicaragua.

Unabhängiger Journalismus spielt sich also nur mehr im Netz ab?

Nicht ganz. Es gibt noch die privaten TV-Sender Canal 10 und Canal 12 und ein paar Radios, aber auch deren Existenz ist bedroht, unabhängige Zeitungen gibt es nicht mehr. El Nue­vo Diario hat vor ein paar Jahren schon dichtgemacht. La Prensa ist von der Polizei besetzt und funktioniert nur noch online. Die Polizei hat nicht nur die Redaktion gestürmt, sondern auch die kommerzielle Druckerei. Der Geschäftsführer, mein Cousin Juan Lorenzo Holmann, sitzt im Gefängnis.

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Ohne die Augen und Ohren der Leute in Nicaragua könnten wir nicht arbeiten. Natürlich müssen wir die Informationen überprüfen. Es gibt auch Leute in staatlichen Institutionen, die uns Informationen liefern. Wir haben in Confidencial mehrmals über Skandale in Ministerien und Institutionen berichtet, zum Beispiel im Gesundheitsministerium, im Bildungsministerium oder in der Zentralbank. Natürlich müssen wir diese Informanten schützen.

Vor ein paar Wochen hat Face­book eine nicaraguanische Trollfabrik geschlossen. Was ist da passiert?

Das waren Hunderte von Fake-Accounts, mit denen das Regime in den sozialen Medien Stimmung gegen Regimekritiker gemacht hat. Das lief vor allem über das Telekommunikationsinstitut Telcor, über den Obersten Gerichtshof und die Sandinistische Jugend, der Parteijugend, die von der Vizepräsidentin gesteuert wird.

Ihre Schwester Cristiana Chamorro hätte bei den Wahlen große Chancen gehabt. Bevor sie zur Einheitskandidatin der Opposition gewählt werden konnte, wurde sie unter Hausarrest gestellt. Ist sie noch immer isoliert?

Ja, der Hausarrest unterscheidet sich von der Gefängniszelle insofern, dass sie Besuch von ihren Kindern empfangen darf. Sonst dürfen nur die Hausangestellten hinein. Die Polizei steht vor der Tür. Sie hat keinen Zugang zu Telefon oder Internet. Noch drei weitere Personen stehen unter Hausarrest: der Unternehmer Noel Vidaurre, der TV-Kommentator Jaime Arellano, und María Fernanda Flores, die Frau des Ex-Präsidenten Arnoldo Alemán.

Von den 36 politischen Gefangenen, die vor den Wahlen festgenommen wurden, sitzen vier Frauen seit Monaten in Einzelhaft, es sind die Anführerinnen der Partei Unamos, die früher Sandinistische Erneuerungsbewegung (MRS) hieß: Dora María Téllez, Tamara Dávila, Ana Margarita Vigil und Suyén Barahona. Die anderen 32 Gefangenen teilen ihre Zellen zu zweit, sind aber sonst auch total isoliert.

Einigen der Gefangenen wird Geldwäsche vorgeworfen, weil sie ausländische Gelder angenommen haben. Da geht es immer wieder um die Violeta-Barrios-de-Chamorro-Stiftung. Die Stiftung Ihrer Mutter.

Diese Stiftung wurde mittlerweile geschlossen. Meine Mutter hat sie 1997 gegründet. Sie widmete sich vor allem der Förderung von freier Presse und Meinungsfreiheit und hat Journalistinnen und Journalisten ausgebildet. Ich habe weder für mich noch für Confidencial jemals Gelder beantragt und 2013 bin ich auch aus dem Leitungsrat zurückgetreten. Deswegen ist es besonders absurd, dass man mich in Zusammenhang mit dieser Stiftung verfolgt.

Haben die Gefangenen Zugang zu Anwälten?

Anfang der Woche durften sie zum dritten Mal in fünf Monaten Verwandtenbesuch empfangen. Meines Wissens gab es zu den Anwälten nur während der richterlichen Anhörung Kontakt. Vertrauliche Gespräche waren nicht erlaubt.

Was weiß man über ihren Gesundheitszustand?

Heute interviewen wir Angehörige. Die Vereinigung der Angehörigen veröffentlicht gewöhnlich ein kollektives Statement. Die meisten politischen Gefangenen haben zwischen acht und zwanzig Kilo Gewicht verloren, weil sie nicht ausreichend ernährt werden und auch keine Lebensmittel von der Familie bekommen dürfen. Sie werden mindestens zweimal täglich verhört. Einige stecken in Zellen, wo 24 Stunden das Licht brennt, andere leben in völliger Dunkelheit. Neben den 40 Gefangenen, die zwischen Juni und August in Zusammenhang mit den Wahlen festgenommen wurden, gibt es weitere 120 politische Gefangene in verschiedenen Gefängnissen. Das sind die Leute, die am friedlichen Aufstand gegen das Regime vom April 2018 teilgenommen haben. Einige von ihnen wurden freigelassen und dann neuerlich eingesperrt, andere sitzen seit über drei Jahren.

Was hat Staatschef Ortega vor? Der Schriftsteller Sergio Ramírez sieht die Gefangenen in einem Interview mit der taz als Geiseln für politische Verhandlungen.

Am 8. November hat Ortega die Gefangenen in einer Rede als „Hurensöhne“ bezeichnet und angedeutet, dass er sie als Hochverräter ausbürgern will. Aber Ortega legt seine Karten nicht auf den Tisch. Man weiß nicht, was er bezweckt.

Welche Gegenleistung und von wem könnte er für die Freilassung der Gefangenen verlangen?

Er spricht immer von den Sanktionen der USA und der EU. Einige hohe Funktionäre, darunter Vizepräsidentin und Präsidentengattin Rosario Murillo, und Ortega selbst dürfen nicht mehr in die USA einreisen und deren Konten dort wurden eingefroren. Ich meine, diese Sanktionen werden nicht ausreichen, um in Nicaragua die politischen Freiheiten wiederherzustellen.

Bei den Wahlen vom 7. November hat Ortega einen Wahlsieg mit 75 Prozent der Stimmen beansprucht und der Zentrale Wahlrat gab eine Beteiligung von 65 Prozent bekannt. Glaubt das jemand in Nicaragua?

Wir haben bei CID Gallup, einem internationalen Umfrageinstitut, eine Umfrage in Auftrag gegeben, wonach 78 Prozent der Befragten nicht an diese Wahlen glaubten. Die unabhängige NGO Urnas Abiertas spricht von über 80 Prozent Stimmenthaltung. Zugang zu den Wahllokalen hatte sie nicht, aber 1.400 Beobachter haben gezählt, wie viele Wähler hineingingen. Journalisten und Privatleute, die für uns Beobachtungen angestellt haben, berichteten, dass bis 10 Uhr ein gewisser Andrang herrschte und dann kaum mehr jemand wählen ging. Professionelle Wahlbeobachter waren nicht zugelassen. Und ausländische Journalisten ließ man erst gar nicht ins Land.

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