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Prozess gegen frühere KZ-SekretärinUnvergessene Grausamkeit

Josef Salomonovic’ Familie wurde von den Nazis ins KZ Stutthof verschleppt. Am Dienstag sagte er gegen eine ehemalige Sekretärin des Lagers aus.

„Angenehm ist es nicht, hierher zu kommen“: Der KZ-Überlebende Josef Salomonovic am Dienstag Foto: Marcus Brandt/dpa

Itzehoe taz | Als alles vorbei ist, wirkt Josef Salomonovic erleichtert. Der alte Herr mit vollem, nur teilweise ergrautem Haar sitzt auf dem Zeugenstuhl, neben sich seine Frau Elisabeth und sein Anwalt Christoph Rückel, und sagt:„Angenehm ist es nicht, hierher zu kommen. Es ist eine moralische Pflicht.“ Zu diesem Zeitpunkt hat der Richter längst seinen Sessel geräumt. Auch die Angeklagte hat ihren mit Plexiglas geschützten Sitz verlassen. Die Hauptverhandlung gegen die 96-jährige Irmgard F., angeklagt der Beihilfe zum Mord in 11.430 Fällen, ist für diesen Dienstag geschlossen. „Ich bin froh, dass es hinter mir liegt“, sagt Salomonovic.

Josef Salomonovic ist 83 Jahre alt, geboren in Mährisch-Ostrau (Ostrava) im heutigen Tschechien. Und er ist Jude. Zum ersten Mal in seinem Leben hat er als Zeuge vor einem deutschen Gericht ausgesagt. Es geht um sein Leben. Und es geht um die Frage, ob Irmgard F. schuldig im Sinne der Anklage ist, ob sie als Sekretärin des Kommandanten Paul-Werner Hoppe im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig, dem heutigen Gdansk, zwischen dem Juni 1943 und dem 1. April 1945 Hilfe zur Begehung heimtückischer und grausamer Morde geleistet hat.

Der aus Wien angereiste Josef Salomonovic erwartet nicht, dass Irmgard F. in diesem Verfahren ihr eisernes Schweigen bricht. Aber das, was in Stutthof geschah, ist Teil seines eigenen Lebens, etwas, was ihn nie wieder losgelassen hat. Was ihn dazu gebracht hat, all die Schreckensorte vom Ghetto Lodz über Auschwitz bis zu einem Außenlager des KZ Flossenbürg in Dresden wieder und wieder zu besuchen, Vorträge vor Schulklassen zu halten, an einem Film mitzuarbeiten.„Ich mache das für meinen Vater, für meine Mutter und meinen Bruder“, so begründet er seinen Auftritt vor Gericht.

Mit dem Zug nach „Litzmannstadt“

Um kurz nach zehn Uhr am Dienstagmorgen bittet Richter Dominik Groß vom Landgericht Itzehoe in einer umgebauten Industriehalle Salomonovic um seine Aussage. Und der alte Mann beginnt von seiner Kindheit zu erzählen, die man nicht als eine Kindheit im landläufigen Sinn bezeichnen kann. Denn der kleine Josef war dreieinhalb Jahre alt, da zwangen die Nazis ihn und seine Familie aus Prag in einen Zug mit dem Ziel Lodz, das die Deutschen in Litzmannstadt umbenannt und wo sie ein großen Ghetto für die verhassten Juden eingerichtet hatten. Diese Zugfahrt nach Lodz geschah am 3. November 1941.

„Ich besaß nur einen gelb-grünen Rucksack“, sagt Salomonovic. „Darin hatte ich einen Nachttopf und Klopapier. Zwischen den Blättern des Papiers hatte mein Vater Geldscheine versteckt.“ Er erinnert sich an eine sehr kleine Wohnung, die man mit einer polnischen Familie teilen musste, daran, dass die Eltern und der Bruder ihn den ganzen Tag alleine lassen mussten, weil sie zur Zwangsarbeit gingen, dass er alleine daheim blieb, und an sein Versteck, das der Vater für ihn auf dem Dachboden einrichtete, für den Fall, dass es wieder zu einer „Sperre“ kommen sollte. Denn Kinder, sagt Salomonovic, galten als „Parasiten“. Und Parasiten wurden umgebracht, so wie die Alten und zur Arbeit im Ghetto nicht mehr Fähigen. Am Ende waren von den zwölf Spielkameraden Josefs nur mehr drei übrig.

Während Salomonovic erzählt, hört ihm die Angeklagte Irmgard F. in etwa fünf Meter Entfernung aufmerksam zu. Irmgard F. hat sich bisher nur insoweit zur Anklage geäußert, als dass sie unschuldig sei. Sie verschränkt die Hände, sagt nichts. Es ist mucksmäuschenstill im voll besetzten Zuschauerraum geworden, in dem auch zwei Schulklassen Platz genommen haben.

Und Josef Salomonovic berichtet, wie seine Familie eines Tages im Jahr 1944 wieder in einen Zug gesetzt wurde, der dieses Mal aus Viehwagen bestand. Da war er inzwischen sechs Jahre alt geworden. Wie er in Auschwitz seine Mutter unter den vielen nackten und geschorenen Frauen nicht mehr finden konnte und die Aufseherin ihm ein Stück Schokolade in den Mund schob – und ihn verschonte.

„Das Allerschlimmste war der Hunger und die Kälte.“

Eltern und Bruder galten den Deutschen als Hochqualifizierte, die es weiter auszubeuten statt sofort zu töten galt. Und deshalb wurden sie nach wenigen Tagen weiter verschleppt, nach Stutthof, in dessen Nähe inzwischen die Maschinen der Fabrik aus Lodz wieder installiert worden waren. „Es war das schlimmste Lager“, sagt Salomonovic. „Das Allerschlimmste war der Hunger und die Kälte.“

Irmgard F. war da schon 19 Jahre alt und arbeitete in der gut geheizten Kommandantur des KZ. Das Gebäude steht noch heute. Man hat von den früheren Büros einen guten Blick auf die ehemaligen Häftlingsbaracken. F. erledigte die Post für den Kommandanten, ließ sich Schreiben diktieren, las eingehende Befehle und machte durch diese Tätigkeit, so steht es in der Anklageschrift, die Massenmorde in Stutthof möglich, als Rädchen im Getriebe. 65.000 Menschen starben dort.

„Wir wurden getrennt, Bruder und Vater kamen ins Männerlager, meine Mutter und ich ins Frauenlager. Dazwischen war Stacheldraht“, sagt Josef Salomonovic. „Wir besaßen eine Decke. Auf der einen Seite war sie sauber. Auf der anderen stand ein großes ‚K‘ und ein großes 'L“ geschrieben. Der Junge verlor seine Milchzähne, aber es wuchsen keine neuen nach. Stundenlang hätten sie bei den Zählappellen stillstehen müssen. „Fünf Uhr früh, immer hundert in einem Block. Wenn jemand umgefallen ist, dann wurde noch einmal gezählt. Wenn jemand fehlte, auch.“ Er habe zwischen den Beinen der Mutter gestanden. „Sie hat mich gewärmt und ich sie“, sagt der Zeuge.

Phenolspritze ins Herz

Und dann hält Josef Salomonovic das Schwarz-Weiß-Foto eines mittelalten Mannes mit vollem schwarzen Haar in die Höhe. Es ist ein Bild seines Vaters. Eines Tages, möglicherweise am 17. September 1944, hatten ihn die Deutschen unter falschen Versprechungen in die Krankenstation gelockt. Dort bekam er statt der erhofften Medikamente eine tödliche Phenolspritze ins Herz injiziert.

Es ist von den Zuschauerbänken des Gerichts aus nicht ersichtlich, ob die Angeklagte Irmgard F. das von Josef Salomonovic in die Höhe gehaltene Bild seines Vaters betrachtet. Aber es bleibt eine Anklage, ganz ohne Worte. Es bleibt an diesem Tag aber auch bei der Ankündigung der Verteidigung, dass sich Irmgard F. nicht äußern werde.

Josef Salomonovic spricht weiter. Nach gut zweieinhalb Monaten, am 24. November 1944, mussten jene, die von seiner Familie noch übrig waren, Stutthof mit einem Zug wieder verlassen. Wieder im Viehwagen, einen halben Laib Brot pro Person für die Fahrt. Sie kamen nach Dresden, in ein Außenlager des Konzentrationslagers Flossenbürg.

Alle zwei Tage kam die SS zur Kontrolle

Nach Dresden waren die Maschinen gebracht worden, an denen die Mutter und der Bruder weiter ihre Zwangsarbeit verrichten mussten. Verglichen mit Stutthof sei Dresden „wie ein Paradies“ gewesen, sagt Salomonovic. „Dort war Strom, Wasser und Essen. Im Schlafraum gab es Licht.“ Die Bewachung in dem Außenlager in der Schandauer Straße erfolgte durch Wehrmachtsoldaten. Einmal habe ein Deutscher ihm sogar ein Marmeladenbrot zugesteckt, weiß er noch. Nur alle zwei Tage kam die SS zur Kontrolle. Der kleine Josef stieg dann immer in einen großen Wäschekorb, Kleidung darüber, Deckel zu, weg. Salomonovic legt Zeugnis ab: „Am 12. Februar 1945 wurde ich entdeckt. Der SS-Mann hat gesagt: ‚Dieser Dreck muss weg.‘ Am nächsten Tag wollten sie mich erschießen.“

In der Nacht vom 13. auf den 14. Februar ging Dresden im Feuersturm unter, getroffen durch einen schweren Luftangriff der Alliierten. Tausende starben, Zivilisten wie Soldaten. Für Josef Salomonovic war es die Rettung. Auch das Lager war getroffen worden. Erneut musste die Mutter Dora mit ihren beiden Kindern aufbrechen, erst zu Fuß nach Pirna im Elbtal, dann wieder zurück, schließlich in Richtung des heutigen Tschechien, dem Sudetenland. Wieder zu Fuß. Über Hunderte Kilometer. „Meine Mutter brachte mir eine Schachtel mit vier Zuckerstücken. Sie hat gesagt, dass ich sie nicht essen dürfe, solange sie noch lebt.“ Josef hat sich daran gehalten.

Nach dem Fliegerangriff im Straßengraben

Nach einem Fliegerangriff auf die Kolonne blieb Familie Salomonovic im Straßengraben liegen, bis der Tross von Zwangsarbeitern und ihren Bewachern verschwunden war, flüchtete in einen Wald, bat einen Bahnwärter um Hilfe. Und kam in ein Bauernhaus, in dem die tschechischen Bewohner sie versteckten. Bis die Amerikaner kamen, nach wenigen Tagen.

Damit ist die Zeugenaussage von Josef Salomonovic in Itzehoe beendet. Richter Groß bedankt sich, stellt einige Fragen zu Familiennamen und Geburtsdaten. Danach werden Anträge des Gerichts und der Nebenkläger über den weiteren Fortgang des Verfahrens behandelt. Mit einem schnellen Urteil ist nicht zu rechnen. So endet dieser Prozesstag gegen Irmgard F. in Itzehoe, 76 Jahre nach der Befreiung des KZ Stutthof und mehr als 50 Jahre nach ihrer ersten Vernehmung durch die bundesdeutsche Justiz.

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3 Kommentare

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  • Zur Angeklagten:



    ich will nichts verharmlosen oder schönreden, aber mit 19 Jahren war sie damals noch von der sittlichen Reife her Jugendliche, im Vergleich zu heutigen Menschen eher mit einem 16-jährigen als mit einem 18-jährigen Menschen zu vergleichen. Hinzu kommen gruppendynamische Prozesse, die jeder von uns kennt. Wer hatte schon den Mut, sich gegen eine komplette Klassengemeinschaft zu stellen? Nur die wenigsten Menschen sind zu Helden geboren. Und manchmal muss man auch mit den Wölfen heulen, sei es, um zu überleben, sei es einfach aus Faszination. Salomon Perel, besser bekannt als Hitlerjunge Salomon, beschrieb er die NS-Indoktrination als Gift, das jeden Tag in die jungen Gehirne geträufelt worden ist und das teilweise selbst heute noch momenthaft in ihm aufsteigt, allerdings ohne zu wirken. Aufgrund der ständigen Präsenz des Nationalsozialismus an der Schule der Hitlerjugend (HJ) begann er nach eigenen Angaben, sich mit dieser Politik zu identifizieren.

    Ganz ehrlich, ich beneide die Richter nicht, die da Recht sprechen müssen. Denn ihre Aufgabe ist es ja nicht allein, dass unfassbar Böse und seine Helfer zu verurteilen, das Urteil muss ja auch tatrelevante Umstände berücksichtigen, die für heutige Menschen kaum nachvollziehbar sind. Z.B. würde die Drohung, "... dann musst du zur Strafe barfuß ins Bett", heute kein Kind verstehen.

    Und dann noch:



    Bitte, die Ortsnamen hängen immer von der Sprache ab, in der kommuniziert wird. Ist es Polnisch, heißen die Orte Monachium, Brunszwik, Gdansk, Olecko. Ist es Deutsch heißen sie München, Braunschweig, Danzig, Oletzko (hier ändert sich nur die Rechtschreibung).

    Ich würde auch jedem abraten die Ortsnamen ohne Sprachkenntnisse in der Landessprache zu sprechen, denn erstens besteht erhöhte Gefahr eines Knotens in der Zunge, zweitens werden in Orten wie Łódź oder Kętrzyn die Sonderzeichen nicht korrekt ausgesprochen und drittens wird in Ortsnamen wie Warszawa die falsche Silbe betont.

  • Wie kann man angesichts dieser Erlebnisse und angesichts der Tatsache, dass es von der Generation der Opfer bis heute Überlebende gibt von einem Schlussstrich fabulieren? Die Folgen dieser Verbrechen werden noch weitere Generationen zu tragen haben, sowohl bei den Opfern als auch bei den Tätern.

  • Danke.