Nachruf auf Bettina Gaus: Mit Mut und Meinung
Sie war für die taz Afrika-Korrespondentin, Politische Korrespondentin, Kolumnistin. Vor allem aber wusste sie, schlaue eigene Gedanken zu formulieren.
Zur taz stieß Bettina Gaus eher zufällig. Ihr erster Text „Somalia blickt in eine ungewisse Zukunft“ – die Überschrift wäre noch heute aktuell – erschien am 11. Januar 1991, nachdem die Reporterin, die bis zuvor über Somalias Bürgerkrieg berichtet hatte, als Vertretung eine Kollegin der Deutschen Welle empfahl, die mit ihrem kenianischen Ehemann in Nairobi lebte. Nur zwei Wochen später saß Bettina Gaus-Mbagathi in einem gecharterten Flugzeug nach Mogadischu und berichtete für die taz als eine der ersten Journalistinnen über die Wirren in Somalias Hauptstadt nach dem Sturz des Militärdiktators Siad Barre durch Rebellen.
„Alle Regeln des täglichen Lebens sind außer Kraft gesetzt, alle Institutionen sind zusammengebrochen“, schrieb sie und bewies ihr Gespür für Absurditäten: „Im Hintergrund sind während unseres Gesprächs vereinzelt Schüsse zu hören. ‚Das sind Freudensalven von Leuten, die entdeckt haben, daß ihr Haus weder geplündert noch zerstört ist‘, erklärt einer unserer Begleiter. Es ist schwer zu entscheiden, was unwahrscheinlicher ist: daß es sich um Salutschüsse handelt oder daß tatsächlich noch ein Haus in dieser zerstörten Stadt völlig intakt sein soll.“
So setzte sie fünfeinhalb Jahre lang als taz-Afrika-Korrespondentin journalistische Maßstäbe: sorgfältig aufschreiben, was man sieht und hört, und es allgemeinverständlich einordnen, ohne vorgefertigte Interpretation und ohne Dinge zu behaupten, die man nicht wissen kann.
Es klingt selbstverständlich – in der Praxis scheitern viele Reporter daran. Bettina Gaus nicht.
Sie war dabei, als Somalia implodierte, als Äthiopiens Militärdiktatur stürzte, als Eritrea unabhängig wurde, als Ruanda im Völkermord versank.
Texte per Satellitentelefon
Die frühen 1990er Jahre waren eine Zeit ohne Mobiltelefon und ohne Internet. Arbeitsmittel waren Aufnahmegerät, Schreibmaschine, Fax – oder auch das Satellitentelefon der UN, um für 20 US-Dollar pro Minute Texte durchzutelefonieren, wie an jenem Tag im Dezember 1992, als im Morgengrauen US-Marines am Strand von Mogadischu landeten und am nächsten Tag eine Reportagenseite in der taz stand, bei der jedes kleinste Detail stimmte.
Weder anderen noch sich selbst gegenüber war sie nachsichtig, wenn es um das journalistische Handwerk ging. Und sie erkannte, dass dieses Handwerk auch an Grenzen stößt, etwa in Ruanda 1994, als täglich Tausende massakriert wurden. Wie schreibt man darüber, erst als weiße Journalistin ausreisen zu dürfen, also dem Horror zu entkommen, und zwei Wochen später bei der Rückkehr ins gleiche Hotel zu erfahren, dass alle tot sind? Wer das miterlebt, ist gezeichnet fürs Leben. Zwei Jahre später verließ sie Afrika.
Bettina Gaus war aber kein Krisenjunkie, der erst in der schusssicheren Weste aufblüht. Ihre wichtigste Freizeitbeschäftigung in Nairobi, so schien es jedenfalls bei Planungstelefonaten aus Berlin, war das Kartenspiel Bridge, Pflichthobby weißer Oberschichtfrauen in der ehemaligen britischen Siedlerkolonie Kenia.
Sie lebte in Nairobi mit ihrer Tochter Nora zusammen, und wer damals ihr Haus betrat, stieß als Erstes auf eine gigantische Bücherwand, gefüllt mit dem kompletten Kanon des deutschen Bildungsbürgertums – eine intellektuelle Sektorengrenze, die ihr die nötige Distanz zu ihrer Arbeit ermöglichte, vor der aber Besucher plötzlich ganz klein aussehen konnten.
Selbstbewusst und unverstellt
So war sie eben – selbstbewusst, unverstellt und ohne die Anmaßung, man könne jemals vergessen machen, wie privilegiert man als Weiße in Afrika lebt. Schade, dass sie im Jahr 2007 den Literaturnobelpreis für Doris Lessing – ihr Werk beschrieb sie als „so unfaßbar großartig wie kaum irgend etwas anderes, was ich je gelesen habe, schon gar nicht über Afrika“ – dann doch nicht in der taz würdigte. „Wenn es noch irgendeinen Bedarf an einem Artikel über Doris Lessing gibt: Ich schreibe diesen Artikel auch auf einem Bein stehend morgens um vier!“, mailte sie der Redaktion aus den USA, wo sie sich gerade befand. Leider einen Tag zu spät.
Nach ihren Korrespondentenjahren in Afrika leitete sie zunächst das Parlamentsbüro der taz in der alten Westhauptstadt Bonn. Als Berlin zur Hauptstadt mutierte, zog es auch Bettina dorthin, an das neue Machtzentrum und an den Sitz ihrer Zeitung, aber nicht wirklich in die Redaktion. Ja, sie liebte die taz mit Leib und Seele, aber nicht unbedingt die ständige räumliche Gemeinsamkeit.
Als neu ernannte Politische Korrespondentin mit Zuständigkeit fürs ganz Große und Wichtige richtete sich Bettina lieber ein eigenes Büro ein, und zwar praktischerweise direkt in ihrer Charlottenburger Wohnung, befreit von den üblichen Präsenzpflichten, den Redigierschichten und den immer rigoroseren Rauchverboten. Bettina arbeitete bereits im Homeoffice, als noch niemand diesen Begriff kannte.
Sie war gleichwohl keine Einzelgängerin, ganz und gar nicht. Sie hatte nur einen ausgeprägten Freiheitsdrang und einen starken eigenen Willen. Geselligkeit? Ja, gern und auf jeden Fall, sie ging gern auf Partys, Spieleabende, genoss lange Diskussionen, natürlich über Politik, aber fast noch lieber über Klatsch, Tratsch und neue, öfters auch sogenannt seichte Fernsehserien. Das Computerspiel „Wer wird Millionär?“ spielte sie nächtelang bis zur Erschöpfung (ihrer Gegner).
Stets pünktlich und auf den Punkt
Bettina war eine begeisterte Gastgeberin, hatte viele Freunde, traf gern Menschen, aber eben am liebsten dann, wenn sie es wollte, und nicht, weil es in einem Dienstplan stand. Für die Besprechungen mit der Redaktion gab es zwar noch kein Zoom, aber Mail und Telefon, das reichte. Die Erfindung des Smartphones ignorierte Bettina konsequent. Wozu ständige Erreichbarkeit? Sie lieferte doch auch so stets pünktlich und traf meist den Punkt.
Ihre kleinen Privilegien genoss die Charlottenburg-Korrespondentin sehr, und die taz war schlau genug, sie zu gewähren. Schließlich galt es eine beliebte Autorin ans Blatt zu binden, die so schön, schnell und originell schreiben konnte wie nur ganz wenige. Weil es Bettina nie dabei beließ, das Offensichtliche zu wiederholen, sondern immer einen eigenen Gedanken hinzufügte, wurde sie auch von anderen Medien gerne eingeladen und sorgte so für mehr taz-Präsenz im Fernsehen als alle anderen. Wahrscheinlich auch deshalb, weil sie in Talkshows und Radiorunden einfach bei sich selbst blieb, also authentisch war.
Bettina Gaus bei „Maischberger“ und „Illner“ sprach genauso unverstellt, ungeniert und fast genauso unverblümt wie die Bettina daheim auf ihrem Sofa. Oft gelang es ihr dabei, selbst komplizierteste Sachverhalte so verständlich zu analysieren und down to earth zu bringen, dass man sich beim Lesen oder Zuhören dachte: Stimmt, da hat sie recht, irgendwie hatte ich auch schon das Gefühl, aber ich hätte es nicht so formulieren können.
Sie liebte den Streit
Oder man dachte: So ein Quatsch, jetzt übertreibt sie wirklich, jetzt komme ich nicht mehr mit. Denn Bettina Gaus war oft auch unbequem. Ja, sie liebte Streit. Nicht den Gut-und-Böse-Klick-Wettstreit wie heute auf Twitter, einem Medium, das sie genauso boykottierte wie Diensthandys, sondern den guten, altmodischen Streit mit Argumenten. Als Gesprächspartner waren ihr schlaue Konservative lieber als langweilige Wiederkäuer der tagesaktuellen linken Lehre. Sie respektierte und schätzte ihre Gegner – vorausgesetzt, sie blieben fair, waren auf intellektueller Augenhöhe und gaben sich genauso viel Mühe wie sie selbst.
Nur zwei von vielen Beispielen aus der taz: Mit kaum einem Kollegen hat sich Bettina intern und öffentlich so intensiv gefetzt wie mit dem Südosteuropa-Korrespondenten Erich Rathfelder während des rot-grünen Kosovokriegs, den sie ablehnte und den er nötig fand. Und doch sprach sie ihm nie ab, genauso redlich wie sie nach dem besten Weg zum Schutz der Menschenrechte im zerstörten Jugoslawien zu suchen.
Mit ihrem taz-am-Wochenende-Kolumnen-Kollegen Peter Unfried war sie politisch auch nicht immer grün, aber persönlich gut befreundet. Und ein Beispiel aus der Politik: Mit Wolfgang Schäuble war sie politisch so gut wie nie d'accord, aber immer interessiert, mit ihm zu disputieren, weil er sich abhob von den üblichen Phrasendreschmaschinen im Politikbetrieb. Und weil er Sinn für Humor hatte, bis zum Sarkasmus.
Bettina fand sogar in schwierigen Lagen, selbst während ihrer schweren Krankheit, immer einen Grund zum Lachen – auch über sich selbst. Nur eines ertrug sie gar nicht: wenn man sie belehren wollte über Dinge, bei denen sie aus ihrer Sicht genug eigene Erfahrungen gesammelt hatte. Rassismus etwa erlebte sie im Beruf und mit ihrer Familie so oft selbst mit, dass sie dazu keine Ermahnungen und Sprachregelungen akzeptierte, die sie nicht nachvollziehen konnte. Wenn es dann zu Konflikten kam, konnte sie auch verletzend sein – und war verletzlich doch selbst.
Noch öfter behielt sie recht
Bettina Gaus hat es sich und uns nie leicht gemacht. Sie verfocht ihre Standpunkte bis zur Sturheit, war aber anders als andere auch bereit, öffentlich Fehleinschätzungen einzuräumen, wenn sie sich erkennbar getäuscht hatte. Aber noch öfter behielt sie recht. So war Bettina die Einzige weit und breit, die schon lange vor der US-Wahl 2016 den Sieg von Donald Trump vorhersagte. Weil sie wieder einmal ihre Flugangst überwunden hatte, in die USA gereist war und mit Amerikanern auf dem Lande jenseits von New York und San Francisco gesprochen hatte – wie schon für ihr Reportagebuch „Auf der Suche nach Amerika“.
Bettina Gaus kritisierte die Ignoranz der Regierenden für sozial Benachteiligte und das deutsche Desinteresse für außereuropäische Ereignisse heftig. Aber sie hinterfragte immer auch die Reflexe des eigenen, linksliberalen – besonders alle Posen gerade des linksgrünen Milieus.
Diva nannte man sie, gelegentlich im despektierlichen, meist im erstaunten Ton. Sie war eine Frau, die nie zu jammern beliebte, sie pflegte mit Sarkasmus ihre Würde zu wahren, durchaus selbstbewusst, was für manche auch verstörend insofern war, als sie nie daran einen Zweifel ließ, das Leben zu lieben – und biete es auch unzumutbar unkomfortable Seiten, etwa so ein Schrecken wie eine schwere Erkrankung.
Ihre Souveränität, ihre Lust an der Debatte hinderte sie nicht daran, manchmal einen Blick freizugeben auf ihr Leben als Tochter eines der wichtigsten Journalismus- und Politikerpaare der Nachkriegszeit. Günter Gaus vor allem, ihr Vater, Spiegel-Chefredakteur und in den siebziger Jahren Diplomat der sozialliberalen Koalition in Berlin, Hauptstadt der DDR, machte sie unempfindlich für linksparteiische Nostalgien – wenngleich sie sich mit politischen Biografien auskannte, die sich vom totalitären ins demokratische Spektrum änderten.
Gern erinnerte sie sich an den Ausflug ihrer Familie nach Spjuterum, Öland, einer kargen Insel vor der schwedischen Stadt Kalmar, wo Herbert und Charlotte Wehner allsommers urlaubten. Günter Gaus hatte als Journalist mit dem mächtigen Sozialdemokraten Ende der sechziger Jahre Dinge zu erörtern.
Bettina Gaus erzählte viel später davon keine Details, sie wusste sie auch nicht, aber was sie berichtete, mit leichter Wehmut, war die Zärtlichkeit und Empfindsamkeit, mit der sich der als Bärbeiß und politische Heimsuchung für so viele vor allem konservative Politiker bekannte Exstalinist und nunmehrige Sozialdemokrat Herbert Wehner gerade um sie, die kleine Bettina, kümmerte – Geschichten erzählend, als er sie an die Hand genommen hatte bei Spaziergängen durch die Heidelandschaft. Man wüsste so gern mehr aus dieser Zeit, Geschichten, die sie, das wache Kind, wohl in Fülle erlebt hat: „Aber dann haben wir abreisen müssen, der Warschauer Pakt war gerade in Prag einmarschiert …“, auch so ein unvergesslicher Satz von unserer Kollegin und Freundin Bettina Gaus, die empfindsamer war, als ihre strahlende Performance auch nur vermutend angedeutet hätte.
Vor allem aber reiste sie gern und war glücklich, wenn sie ihre geliebte Tochter besuchen und Neues erkunden konnte. Dann genoss sie das Leben in vollen Zügen, früher gerne auch in verrauchten, und ist jetzt leider viel zu früh ausgestiegen. Am Mittwoch ist Bettina Gaus im Alter von 64 Jahren nach kurzer, schwerer Krankheit in Berlin verstorben.
Mit ihrem Mut zur eigenen Meinung hat sie unendlich viel dazu beigetragen, dass die taz unberechenbar und deshalb lesenswert blieb. So bedauerlich es für unsere Zeitung war, dass diese herausragende Kollegin Anfang des Jahres doch noch zum Spiegel wechselte: Viel trauriger ist es, dass man ihre Gedanken künftig nirgends und nie mehr lesen und hören kann.
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