Berlin in Argentinien: „Dieses Bild nahm mich gefangen“
Die argentinische Fotokünstlerin Lena Szankay lebte lange in Berlin. 1989 entstand ein Bild, das nun an einer patagonischen Fernstraße prangt. Warum?
taz: Lena, wann genau ist dieses Foto entstanden?
Lena Szankay: Im Juni oder Juli 1989, ganz genau kann ich es nicht datieren. Ich war damals gerade erst in Berlin angekommen.
Wie hast du dieses Berlin erlebt?
Es war eine sehr raue Stadt, aber genau das, wonach ich und viele andere Neuankömmlinge suchten: ein Ort, wo man etwas Eigenes entwickeln und ein anonymeres Leben führen konnte als dort, wo wir herkamen. Zugänglich und gleichzeitig irgendwie unerforscht. Der Görli war damals noch eine Halbwüste voller Sand und Motorenöl, von den Hügeln aus konnte man Ostberlin sehen und auf der anderen Seite den Kirchturm am Lausitzer Platz, für mich war das eine Art Babylon. Dazu die riesigen Schrottskulpturen, die die „Mutoid Waste Company“ dort baute. Ihre Ästhetik und ihre Kleidung haben mich fasziniert, ich erkannte darin Spuren von „Blade Runner“ und Wenders' „Himmel über Berlin“.
1965 in Buenos Aires geboren, lebte Lena Szankay von 1989 bis 2007 in Berlin. Hier machte sie ihren ersten Abschluss als Fotografin am Lette-Verein und war später mehrere Jahre Fotoredakteurin bei der taz. Szankay lebt in Buenos Aires, wo sie künstlerisch arbeitet und Fotografie an der Universidad de Lanús unterrichtet.
Wer ist die Frau auf dem Foto?
Ich weiß es nicht, und ich habe auch ihr Gesicht nie gesehen. Aber das Bild des Umhangs, den sie an diesem heißen Tag trug und der im Wind wehte, hat mich gefangen genommen.
Was bedeutet das Bild für dich?
Frau Görli ist eins meiner Lieblingsmotive aus meinen ersten Jahren als Fotografin, ich habe es schon zu früheren Gelegenheiten eingesetzt, zum Beispiel Ende 2019 bei der Ausstellung „Mitten im Vakuum“ im Haus der Statistik, an der ich beteiligt war.
Jetzt prangt das Bild riesengroß auf einer Werbetafel an einer patagonischen Fernstraße. Wie das?
Fotografie im öffentlichen Raum auszustellen interessiert mich schon länger, genau genommen seit meinen ersten Fotoworkshops in den 1980er Jahren. Dass Abzüge immer dasselbe Format haben und in Schwarz oder mit Aluminium gerahmt werden müssen, das habe ich damals schon hinterfragt. Es hat aber noch lange gedauert, bis jemand wie ich die technologischen Voraussetzungen hatte, Negative derart zu vergrößern.
In welchem Zusammenhang steht denn Kreuzberg 1989 mit einer Straße außerhalb von Trelew/Argentinien im Jahr 2021?
Die patagonische Steppe verweist für mich auf das Wüstenhafte des Görli damals. In Patagonien haben die Weite, der Wind, die Einsamkeit viele Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft inspiriert. Die Landschaft bietet Raum für alles Mögliche, verlangt einem aber auch Widerstandskraft ab und öffnet den Blick ins eigene Innere. Frau Görli repräsentiert für mich all das, zugegebenermaßen als romantische Projektionsfläche. Ich glaube, dass die argentinischen Frauen bei den feministischen Kämpfen weltweit ganz vorne sind, dass sich das Verhältnis zwischen Globalem Norden und Süden verändert und dass auch diese Frau gen Süden blickt.
Kanntest du den Ort, wo die Fotowand steht, vorher?
Nein. Der Standort hat folgende Vorgeschichte: Ich war von einer kleinen Kunstinitiative eingeladen worden, Arbeiten aus meiner Berliner Zeit zu zeigen, und habe ihnen gegenüber erwähnt, dass mich der öffentliche Raum interessiert, vor allem die Nationalstraße 3, die wichtige Punkte im Land verbindet. Es stellte sich heraus, dass die Leiterin des Projekts mit einem Werbeunternehmer befreundet war, der gleichzeitig Musiker ist. Dieses künstlerisches Interesse hat dann dazu geführt, dass er Sponsor des Projekts wurde.
Welches Feedback hat es gegeben?
Die Reaktionen in der Presse waren beachtlich. Soweit ich weiß, bin ich eine der Ersten, die in Argentinien mit privater Unterstützung billboard art macht. Interessant finde ich, dass das Bild während des Vorwahlkampfs aufgestellt wurde. Dadurch ergibt sich eine Verbindung zu einer anderen meiner Arbeiten, Rompecabezas (Rätsel), die ich 2016 im Haus am Kleistpark zeigen konnte und die die visuelle Kontaminierung des öffentlichen Raums durch politische Werbung thematisiert.
Du hast lange in Berlin gelebt, wie nimmst du es heute aus der Distanz wahr?
Berlin fühlt sich fern an, aber wenn ich dort bin, kommt es mir auch wieder unheimlich nahe. Die Stadt hat mich für immer geprägt. Auf der anderen Seite erlebe ich sie aus meiner lateinamerikanischen Perspektive heute als sehr gentrifiziert und kontrastarm, trotz ihres multikulturellen Charakters irgendwie zu homogen. Aber um mir ein echtes Urteil zu erlauben, werde ich wieder mehr Zeit dort verbringen müssen.
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