Die Wahrheit: Wiesnblues
Lebenslänglich Bayer: Und wieder ein Jahr ohne Oktoberfest, ohne all die munteren und aufgeschlossenen Trinker und Grapscher und …
M it ein bisschen Schwung geht es. Der beleibte Mann kommt halbwegs unfallfrei um die Ecke. Sein rotes Gesicht markiert Anstrengung. Noch zehn Meter, dann ist er an den letzten Tischreihen vorbei. Danach kann er in Ruhe nach Hause torkeln, ohne sich weiter zu blamieren. Ein paar Leute zeigen mit dem Finger auf ihn und lachen. Es geht lustig zu auf dem Platz vor dem Wirtshaus.
Die einen finden die weißen Turnschuhe, die der solariumgebräunte Mann in seinen besten Jahren zur abgewetzten Lederhose trägt, todschick, für andere ist das total daneben. Kann sich der keine Haferlschuhe leisten? Einer zeigt sein Trachtenschuhwerk voller Stolz. Handgefertigt sind die und aus ganz weichem Leder, sagt er. Darauf kann man schon mal anstoßen. Männer in Westen mit Hirschhornknöpfen und Frauen in Dirndln, in die sie ihren meist mehr als weniger sichtbaren Busen geschnürt haben, stoßen ihre Biergläser aneinander.
Auf einer Bühne musizieren lederbehoste Männer, was das Zeug hält. Einer von ihnen ist recht korpulent und hat sich den ganzen Abend lang noch nicht bewegt. Ob er später mit einem Kran abtransportiert werden muss? Als sie Musikanten von der gelben Unterhose von Frau Meier singen, trällert so mancher Mann mit. Andere freuen sich, als über die Bergkameraden gesungen wird und jodeln mit, obwohl sie es nicht können. Ein großes Mannsbild mit einer ganz besonders wuchtigen Kette an seiner Lederhose, wechselt den Platz. Am Nebentisch sitzen zwei sehr blonde Frauen. Da könne er nicht anders, sagt er, und alle haben Verständnis. Denn ein Hund sei er schon, wie jemand unwidersprochen feststellt.
Ein anderer Hund, ein wilder wahrscheinlich, steigt einer Frau hinterher, die sich so angezogen hat, als ginge sie gleich auf die Jagd. Ziemlich grün sieht sie aus und freut sich über das Interesse des Mannes, der ihr hinterherdackelt. Hinter einem Baum steht einer, der bricht. Ganz schön früh am Abend, sagt einer. Der macht es richtig, meint ein anderer und hält sein Bierglas in die Tischmitte. Dass das Wiesnbier wieder richtig gut geworden ist, stellt einer fest. Einer anderen graust es vor dem Kopfweh am nächsten Tag.
Weitere waghalsige Abgänge erheitern die Leute, die sich zum Warmtrinken für die Wirts-hauswiesn gegenüber dem Isartor eingefunden haben. Andere stellen sich an den Straßenrand und versuchen mit kuhäugigem Geschau ein Taxi zu erkennen, um es anzuhalten. Bald spielen die Musikanten ihr letztes Stück. Letzte Runden werden organisiert. Wer nicht auf den Preis achten muss, kann sich ein paar Gramm gebrannte Mandeln für ganz viel Geld kaufen, um sie den Kindern mitzubringen, auf die die Perle aus Osteuropa an diesem Abend so schön aufgepasst hat.
Auch in diesem Jahr wird es kein Oktoberfest geben. Würde es eines geben, ginge es am Samstag los. Im vergangenen Jahr war ich recht traurig über die Absage. Heuer weiß ich nicht, ob mir die Wiesn nicht doch wurscht geworden ist.
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