piwik no script img

Der HausbesuchDie Suchende

Es ist schwer, ein Leben lang für den Frieden zu kämpfen. Deshalb kämpft Ursula Renner aus dem Berliner Wedding jetzt für das Leben.

Ursula Renner in ihrem Zuhause in Berlin-Wedding Foto: André Wunstorf

Sie gehört zu den Nachkriegsgeborenen, die immer Suchende geblieben sind. Sie sucht den richtigen Weg.

Draußen: Ursula Renner wohnt an einer Kopfsteinpflasterstraße im Berliner Bezirk Wedding. Es ist eine raue Gegend. Als sie vor zehn Jahren einzog, fragten Bekannte entsetzt: „Was, dahin?“ Heute heißt es: „Finger weg vom Wedding.“ Denn auch hier steigen und steigen die Mieten.

Drinnen: Die Wohnung ist voller Dinge. Nicht nur Bücher und Schallplatten. Auch Fotos, Lampen, vollgepackte Kartons, Teppiche, gefundene Objekte, die wie Frauenskulpturen aussehen, Strohhüte, Karaffen, Kakteen. „Jedes Ding hat eine Geschichte. Deshalb kann ich nichts wegwerfen“, sagt Ursula Renner. Wo viele Geschichten sind, gibt es viel zu erzählen.

Hannover: „Ich bin ja auch in eine Erzählerfamilie hineingeboren“, sagt sie, in Hannover vor 68 Jahren. Gut fand sie, dass die 1926 geborene Tante im Alter immer gesprächiger wurde und dabei das Dritte Reich nicht ausklammerte. Gerade fällt ihr die Geschichte ein, die die Tante oft erzählte: Da trafen sie und ihre Eltern, also Renners Großeltern, auf der Straße die Frau ihres jüdischen Hausarztes und taten so, als wäre sie fremd. Die Arztfrau sagte: „Frau Renner, Sie auch?“ Daraufhin blieb die Großmutter stehen und sprach mit ihr. Als sie ihren Mann, der hastig weitergegangen war, wieder einholte, schimpfte der: „Wie kannst du nur, das kann mich die Stellung kosten.“

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Fragen: Ursula Renner ist eine jener Nachkriegsgeborenen, die ihre Eltern und Großeltern immer wieder fragten: „Was habt ihr gemacht?“ „Was habt ihr gewusst?“ „Wie konntet ihr es zulassen?“ Die Reaktion sei immer die gleiche gewesen. „Sie haben sich sofort verteidigt: Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie es damals war.“

Jedes Ding hat eine Geschichte – wegschmeißen geht nicht Foto: André Wunstorf

Der Mund: Als Kind wurde Ursula Renner von ihrem Vater angeraunzt, wenn sie mit offenem Mund dastand. „Mach den Mund zu, du siehst aus wie ein Kretin“, schimpfte er. „Ich war drei oder vier und wusste nicht, was ein Kretin ist. Aber ich verstand: Er hat Angst. Nur wovor?“ Nachdem der Vater gestorben war, sagte die Tante: „Jetzt kann ich es dir erzählen: Es war die Epilepsie.“ Der Vater hatte als Jugendlicher nach einem Sturz eine Zeitlang epileptische Anfälle. In der Familie hatte man Angst, dass er von den Nazis aussortiert wird, unwert ist. Soweit war man im Bilde. Bei der Wehrmacht war der Vater später trotzdem. Das mit der Epilepsie hatte sich ausgewachsen. Er war bei der Luftwaffe, in einem Einsatzkommando, das in Slowenien und Kroatien Stellungen für die Flak installierte.

Hände hoch: Renner hat vier Geschwister, sie ist die Älteste. „Als Kind habe ich viele Abenteuerbücher gelesen“, erzählt sie. Mutig sein, in die Welt gehen, so die Sehnsucht. Zu Hause aber wurde sie mehr auf Sicherheit getrimmt; sie sollte Lehrerin werden. „Ich wollte das nicht.“ Und dann war da noch diese familiäre Angst, die aus den Erfahrungen des Krieges resultierte. Das müsse ein Grund gewesen sein, warum sie schon in der Schule Russisch lernte, meint sie. Zum einen, weil Russland „so etwas Weites ist; das hat mich angezogen“, aber da war eben auch Furcht: Hannover sei doch nicht weit von der „Zonengrenze“ gewesen und sie dachte: „Wenn die hier sind“, sie meint die Russen, „will ich wissen, was sie sagen. Ich will nicht sterben, weil ich ‚ruki vjerch‘ – Hände hoch – nicht verstehe.“

Fast reingerutscht: Nach dem Abitur studiert Renner Slawistik und Geschichte. Zehn Jahre lang, „unheimlich lang“. Sie habe damals mit vielen verkrachten Existenzen zu tun gehabt. Da war so eine Atmosphäre extremer Verneinung der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Es klingt, als hätte es Berührungspunkte mit Leuten von der RAF gegeben. „Ja“, sagt sie, irgendwie war das knapp, ich hätte da reinrutschen können.“

Rasterfahndung: Polizeilich erfasst war sie jedenfalls – wegen der Leute von der Roten Hilfe, die in einer ihrer Arbeitsgruppen an der Uni waren. „Wenn die argumentierten, habe ich nichts verstanden.“ Zu der Zeit lebte sie in einer Wohnung, wo sie nicht angemeldet war. Zack landete ein Rasterfahndungsdossier auf dem Schreibtisch des Regierungsvizepräsidenten vom Bezirk Braunschweig, der auch der Chef der Polizeibehörde war. Und der war ihr Vater. „Er war entsetzt, hatte Angst, ich hab mich schleunigst angemeldet.“

Krisen: Die Zeit im Studium sei chaotisch gewesen. „Ich wusste nur, was ich nicht will. Nicht heiraten, keine Kinder. Wie meine Mutter wollte ich auf keinen Fall sein, so depressiv auch.“ Dann kam ihr die Idee, Lektorin zu werden. Aber kaum war der Abschluss geschafft, „fühlte ich mich wieder verloren“. Sie kriegte einen Auftrag, ein Buch zu lektorieren, und rutschte in die nächste Krise: Schwangerschaft. Der Kindsvater wollte es nicht. „Ich habe abgetrieben mit der mir selbst gestellten Aufgabe: Jetzt nimmst du dein Leben wirklich in die Hand.“

Außenansicht: Früher fühlte sich Ursula Renner im Wedding wie eine Touristin Foto: André Wunstorf

Die Sinnerfüllung: Ist, wer einmal Suchende ist, immer Suchende? „Es gibt Etappenziele“, sagt sie. In alle Kanäle habe sie ventiliert, sie brauche einen Job. „Der sollte entsprechend bezahlt sein und auch eine Bezeichnung haben.“ Und tatsächlich, sie findet einen als Lektorin in Nürnberg bei einem Verlag der Bundesanstalt für Arbeit, wird Redakteurin für Berufskunde. Dort ist sie 13 Jahre, dann sei die „Leere“ immer größer geworden. „Die Frage nach dem Sinn“, sagt sie, „der Wunsch, Abenteuer zu erleben, war wieder da.“

Der Balkan: Sie hatte schon in den 70er-Jahren Jugoslawien bereist und war betroffen ob der Feindseligkeit der verschiedenen Volksgruppen untereinander. „Es wunderte mich, dass noch kein Krieg war.“ Seitdem gab es Kontakte, auch Einladungen zu Frauencamps nach Novi Sad. Das war Anfang der 90er-Jahre. Da waren viele Serbinnen, Kroatinnen, Bosnierinnen, auch geflüchtete Frauen, „da war dieser Haufen durcheinander redender Frauen und ich verstand gar nichts mehr. Deren Lebensmut, obwohl sie alles verloren hatten, hat mich umgehauen. Aber was es bedeutet, hab ich erst verstanden, als ich wieder zurück war in dieser Welt hier, wo es im Supermarkt 27 Sorten Joghurt gibt.“

Balkan Peace Team: Sie erlebt in Jugoslawien maximale Unsicherheit und fühlt in Deutschland maximale Leere. Da habe sie gedacht: „Das einzige, was mir bleibt, auf der Eisscholle leben.“ Sie kündigt und geht mit der Abfindung nach Serbien. Für zwei Jahre verpflichtet sie sich im Balkan Peace Team. Es ist Mitte der 90er-Jahre kurz nach dem Genozid in Srebrenica. Sie baut Graswurzelstrukturen auf mit Leuten, die in Serbien überhaupt noch Interesse haben, mit Ko­so­vo­al­ba­ne­r*in­nen etwas zu tun zu haben. Und in Pristina mit Leuten, die mit Ser­b*in­nen zusammenarbeiten wollten.

Bleiben: Aus zwei Jahren werden 15. Sie erlebt die Bombardierung Belgrads durch die Nato mit, baut später ein Traumatherapie-Zentrum für Veteranen in Novi Sad auf und noch später ein Friedensprojekt in Kroatien. „Es ging um die kroatische Seite der Gewalt. Das wollte niemand dort wissen.“ Einer ihrer Schwerpunkte: Fundraising. Die Weltumstände seien dabei hilfreich gewesen, 9/11 etwa.

Zurück: Sie ist 58 Jahre; ihre Hüften sind kaputt. 2009 zieht sie nach Nürnberg, lässt sich operieren; 2010 geht sie nach Berlin und arbeitet bei einer NGO von traumatisierten Bundeswehrsoldaten. „Jede Armee funktioniert gleich. Die Soldaten sind Nummern und Kanonenfutter.“

Jetzt: Nun ist sie Rentnerin, nah an der Altersarmut und engagiert sich in der Stadtteilgruppe, die den „Tag des guten Lebens“ im Wedding organisiert. „Mir gefällt, dass man Leute ins Gespräch bringt. Davor hab ich im Kiez wie eine Touristin gelebt.“ Beim Tag des guten Lebens geht es um Umwelt, Nachhaltigkeit und Nachbarschaft. Sie glaubt, die Weltlage ist so, dass uns das Halt geben wird in Zukunft. Es sei, meint sie, „schon wahnsinnig, wie sehr wir noch glauben, wir entkämen“ – der Klimakatastrophe, der sozialen Katas­trophe, den ökonomischen Zerwürfnissen.

Was fehlt: Aber sagen Sie, da fehlt doch etwas: die Liebe. „Ich dachte mir, dass Sie das fragen.“ Und? Ja, es gab große Lieben, sagt sie. Sechs. Meist Männer. Keine dauerte länger als vier Jahre. „Ich habe schon sehr gelitten, wenn es auseinander ging.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!