piwik no script img

Lübecker Projekt zum Auto-AusstiegTausche Lappen gegen Ticket

Die Stadt Lübeck bietet BürgerInnen, die ihren Führerschein abgeben, ab Januar 2022 ein Jahresabo für den Stadtverkehr gratis an.

Alter Lappen: Führerscheine können in Lübeck gegen ÖPNV-Tickets getauscht werden Foto: Andreas Arnold/dpa

Lübeck taz | Im Januar wird der Führerschein von Joachim Conrad 50 Jahre alt. So lange fährt er schon Auto, „unfallfrei“, wie er stolz betont. Er hat den Wagen vor allem genutzt, um zum Golfplatz zu fahren oder in seine alte Heimat Kiel. „Ich mochte den Bus nicht so gern, weil die Leute dort aufeinanderhocken“, sagt er.

Sinnvoll wäre es, das nicht nur für ein Jahr, sondern lebenslang anzubieten

Margret Wulf-Wichmann, Sprecherin des Arbeitskreises Bauen und Planen im Lübecker SeniorInnenbeirat

Trotzdem will er sich 2022 das Busfahren angewöhnen. Er wird seinen rosa Papierführerschein abgeben, dafür bekommt er von der Stadt Lübeck eine Jahreskarte für den Bus gratis, wenn auch „leider nur im Stadtgebiet“, sagt Conrad. Bis zu 500 LübeckerInnen dürfen wie er in den nächsten drei Jahren ihren Führerschein gegen einen Fahrschein für den öffentlichen Nahverkehr tauschen. Der gilt für ein Jahr, der Führerschein ist dann aber dauerhaft weg.

Margret Wulf-Wichmann hofft, dass das Modellprojekt den öffentlichen Nahverkehr in Lübeck stärken wird. Doch das Angebot geht ihr nicht weit genug. „Sinnvoll wäre es, das nicht nur für ein Jahr, sondern lebenslang anzubieten“, sagt die Sprecherin des Arbeitskreises Bauen und Planen im SeniorInnenbeirat der Stadt. Sie findet es auch nicht gut, dass die Große Koalition aus CDU und SPD das Thema übernommen hat, nachdem sie einen ähnlichen Antrag ihres Beirats und der Grünen 2019 ablehnten.

Die Antragsteller hätten damals ein Freiticket für drei Jahre beantragt: „Zu viel auf einmal“, sagt CDU-Bürgerschaftsmitglied Carsten Grohmann. „Es ist ja erst mal nur ein Modellprojekt. Ich kann mir vorstellen, den Zeitraum auf drei Jahre zu erhöhen, oder auch lebenslang. Das hängt davon ab, wie gut es angenommen wird, und von der finanziellen Ausstattung.“ Eine Jahreskarte für den Bus kostet in Lübeck 620 Euro. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass alle 500 Jahreskarten vergeben werden, kostet das die Stadt 315.000 Euro, abzüglich der Umsätze durch zusätzliche NutzerInnen, die dem Bus über das erste Jahr hinaus treu bleiben.

In einer Umfrage der Lübecker Nachrichten sagte immerhin ein Fünftel der 3.000 LeserInnen, sie könnten sich vorstellen, den Führerschein abzugeben. Ob sie das tatsächlich tun würden, steht auf einem anderen Blatt.

Stadtverkehr „immer aggressiver“

Für Eva Heesch war die Aktion der Stadt ein Anreiz, endlich Nägel mit Köpfen zu machen. Sie hat schon einen Termin bei der Führerscheinstelle Ende November. „Ich kann nicht verstehen, wenn jemand vielleicht sogar zwei Autos in der Garage stehen hat. In der Klimakrise muss das doch nicht sein“, sagt sie. Die 69-Jährige hat sich oft geärgert, wie viel Geld und Raum ein Auto verbraucht. „Ich habe so oft Parkplätze gesucht. Und über die Jahre ist der Straßenverkehr immer aggressiver geworden“, sagt Heesch. Weil sie in der Nähe der Innenstadt wohnt, ist das Leben ohne Auto für sie kaum ein Verzicht. Sie macht viele Wege zu Fuß, für einen Großeinkauf zweimal in der Woche nimmt sie ein Taxi.

Ein Schlüsselerlebnis war für sie ein Beinahe-Unfall, den sie vor Kurzem hatte. Der Schreck sitzt ihr immer noch in den Knochen. Das Fahren im Alter könne ein Sicherheitsrisiko sein, zum Beispiel, wenn Menschen langsamer reagieren oder weniger gut sehen. „Ich kenne Pflegebedürftige, die nehmen Medikamente, setzen sich aber hinters Steuer“, sagt Heesch.

Auch Carsten Grohmann hofft, dass sich die Sicherheit im Straßenverkehr erhöht, wenn das Projekt in Lübeck erfolgreich ist: „Als Augenarzt sehe ich Patienten, die glauben, sie seien fahrtüchtig, obwohl sie es nicht sind.“ Nun hofft er, dass der Führerscheintausch auch in anderen Städten Nachahmer findet.

Lübeck ist die erste norddeutsche Stadt mit einem solchen Modellprojekt. In Kaufbeuren in Bayern und Biberach in Baden-Württemberg haben sich 200 beziehungsweise 50 Menschen beteiligt. Der baden-württembergische Landkreis Ludwigsburg startete schon 2015 eine Umtausch-Aktion und vermeldete nach einem Jahr 45 Prozent mehr NeukundInnen für Nahverkehr-Abos.

Genaue Zahlen über die Beteiligung gibt es aber nicht. In allen drei Städten waren die Projekte auf RentnerInnen beschränkt. Im bayerischen Bamberg und im nordrhein-westfälischen Recklinghausen sind sie für alle Menschen offen – wie jetzt auch in Lübeck. RecklinghausenerInnen fahren nur drei Monate kostenfrei und weitere drei, wenn sie danach ein Abo abschließen.

Ob die Projekte die Verkehrswende tatsächlich voranbringen, ist fraglich. Etliche TeilnehmerInnen hätten ihren Führerschein wohl ohnehin abgegeben. Der Effekt auf die Umwelt bestünde dann vor allem darin, dass weniger Pkw ungenutzt den urbanen Raum verstopfen.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

5 Kommentare

 / 
  • Die Aktion wäre ok, wenn es für alle (unfreiwilligen) Führerschein-Entzüge gelten würde. Da liegt nämlich das größte Potential.

  • > "Sie macht viele Wege zu Fuß, für einen Großeinkauf zweimal in der Woche nimmt sie ein Taxi."

    Viele Leute machen sich wohl nicht bewusst, wie viel Taxi man bequem bezahlen könnte von dem, was ein normales Auto kostet. Natürlich ist es blöd, wenn man spät abends mit Erkältung und Kopfschmerzen noch fünfundzwanzig Minuten vom Bahnhof nach Hause radeln muss. Aber ein Taxi gibt es immer.

    Interessanter Link: www.autofrei.de/

  • Die Kosten-Nutzen-Rechnung wird für wenige aufgehen. Es sind zwei Sachen, aus Gründen des Klimas oder des Alter nicht mehr selber zu fahren und das Auto abzuschaffen. Aber den Lappen abzugeben ist ein deutlich härterer Schritt und Fahren auch in Ausnahmen nicht mehr möglich. Dafür bräuchte ich persönlich deutlich höhere Anreize. Und das, obwohl ich kein Auto habe, noch nie eins hatte und nie fahre, höchstens eine Fahrt im Jahr (Transport, unerreichbare Orte)... aber ich könnte, wenn ich müsste...



    Ich bin gespannt, wie erfolgreich die Kampagnen werden. Aber in Sachen Klimarettung und Verkehrswende ein Alibi-Projekt.

    • @Mrs.V:

      Kann mich da nur vollumpfänglich anschliessen: den Lappen freiwillig und unwiederruflich abgeben für 1 (!) Jahr ÖPNV umsonst im Stadtgebiet hört sich wie der schlechteste Deal aller Zeiten an. Wer denkt sich sowas aus und wer nimmt das ggfs wahr? Eine abschliessende Auswertung würde mich interessieren

    • @Mrs.V:

      Da stimme ich zu, viel wichtiger wären bezahlbare Jahresnetztickets bei der Bahn und im ÖPNV.