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Kunst spielt mit GeschichteDann wieder auf Null stellen

Die Künstlerinnengruppe Endmoräne feiert ihr 30jähriges Bestehen. Ihre Ausstellung im brandenburgischen Beeskow fragt nach Vergangenheit und Zukunft.

Patricia Pisani hat eine 12 Meter lange Quetschschnecke zum Träger eines Gedichts gemacht Foto: Endmoräne

Der Bürgermeister von Beeskow, Frank Steffen, spricht und erinnert an seinen Vater, der sein Leben lang im Spanplattenwerk in Beeskow arbeitete. Ein Chor von Männern, die dort arbeiten und gearbeitet haben, singt „Über sieben Brücken musst du gehen“. Eine Vertreterin des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg redet. Ein Werksleiter freut sich über die Zusammenarbeit. Und zwanzig Künstlerinnen bedanken sich für Material und Hilfe, zum Beispiel von Gabelstapelfahrern des Werks.

Das war am Samstag, 14. August, schon eine etwas ungewöhnliche Eröffnung der Ausstellung „Tomorrow never waits“ in Beeskow, mit der Endmoräne e. V., ein Zusammenschluss von Künstlerinnen aus Brandenburg und Berlin, sein dreißigjähriges Bestehen feiern konnte. Seit 30 Jahren organisiert der Verein jedes Jahr neu Fördermittel, sucht einen von der Kunst noch nicht besetzten Ort – Gutshöfe, verfallene Schlösser, leere Kasernen, die Ruinen einer Papierfabrik in Eberswalde waren darunter – und zieht dann mit gut 20 beteiligten Künstlerinnen für zwei Wochen dahin. In einer Sommerwerkstatt entstehen in situ ihre Arbeiten.

Arbeitgeber seit 1964

In Beeskow konnten sie erstmals eine große Lagerhalle und Materialien aus einem funktionierenden Betrieb nutzen, dem Spanplattenwerk Sonae Arauca Beeskow. Dieser internationale Konzern hat das Spanplattenwerk, das seit 1964 wichtigster Arbeitgeber des Ortes ist und nach der Wende mehrere Verkäufe überlebt hat, 2016 übernommen.

In hohen Lagerregalen, die teils als Ausstellungsdisplay genutzt werden, liegen auch Erinnerungsstücke an die Werksgeschichte aus, wie Brigadebücher und Fotoalben. Eine Schulklasse hat sich beteiligt und mit den Stoffen des Werks gebaut, zum Beispiel ein „Haus aus Käse für Mäuse“.

Was die Künstlerinnen in der Lagerhalle vorfanden, war neben noch zu nutzenden Materialien eine Art Friedhof der ausrangierten Maschinen und von Ersatzteilen. Die haben in den Augen derer, die ihre Funktion nicht unbedingt erkennen, ja selbst schon einen Reichtum an skulpturalen Formen. So war das Räumen und Arrangieren des Vorgefunden schon ein Teil der künstlerischen Intervention. Gisela Genther, Barbara Müller oder Ingrid Kerma haben dabei Erinnerungsbilder für einen Abschnitt der Industrie inszeniert, der jetzt schon Vergangenheit ist. In einem Teil der Halle sind die Maschinenteile nach akustischen Qualitäten geordnet, um sie mit Schlägeln zu bespielen.

Erinnerung an die Sintflut

Die Ausstellung

Endmoräne „Tomorrow never waits“, in 15848 Beeskow, Sonae Arauco Beeskow GmbH, Eingang Hafenstraße. 21., 22., 28. + 29. 8, jeweils 11–18 Uhr

Dabei ist die Reflektion zu spüren, wie schnell etwas auf den Abfallhaufen der Geschichte wandert und was das über unser Verhältnis zu den Ressourcen erzählt. Christiane Wartenberg hat eine alte Spanstreumaschine beschriftet mit Zeilen, die die Sintflut aus der Bibel mit Umweltverschleuderung heute kurzschließt, Masko Iso lässt die Maschinen mit Sprechblasen reden: „Genau, einfaches Leben und gemeinsame Benutzung der Dinge ist schön.“

Es gibt die großen Eingriffe in das Material und die kleinen, deren Entdeckung erfreut, wenn die Blicke allmählich das Dickicht der Dinge durchdringen. Antje Scholz lehnt Stöcke, die sie mit weißen Fäden umwickelt hat, gegen die Fenster der Lagerhalle. Das ist ein Hinweis auf die Bäume, die in der Fabrik zu Spanplatten verarbeitet werden. Daneben kleben kleine Zettel, mit Notizen wie: „Abrechnung folgt“, „die Wirklichkeit wiederfinden“, „dann wieder auf Null stellen“, Splitter aus dem Nachdenken darüber, was unsere bisherige Lebensweise für die Zukunft bedeutet.

Der Verein Endmoräne lädt jedesmal auch Gastkünstlerinnen ein. Diesmal ist die Bildhauerin Gaby Taplick dazugekommen, die eine der alten Maschinen mit Spanplatten weitergebaut hat, mit seitlichen Auslegern, die sich auf dem Hof vor der Halle ausbreiten können. Marion Orfila hat zwischen die hohen Stapel von Kartonagen Plastikfolien gehängt, mit Wasser gefüllt. Sie erinnern an Hängematten, Bilder der Muße, aber stellen über das Wasser auch die Verbindung zur Natur her, die vor den Fenstern dahinter wuchert. Von Michaele Nasoetian und Alina Inserra kommt eine minimalistische Soundinstallation. Die errechneten Klänge gehen auf Zahlen über den Ressourcenverbrauch zurück.

Das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine, und zwischen der Gesellschaft und ihrem Umgang mit zum Beispiel dem Wald, ist ja schon den vorgefundenen Materialien eingeschrieben. Teils weiß man beim Gang über den Hof und durch die Halle auch nicht so genau, was noch einfach so rumsteht und was von Künstlerinnenhand arrangiert ist.

Ineinanderrutschen der Fragmente

Dies Ineinanderrutschen der Fragmente aus der industriellen Wirklichkeit mit den Arbeiten, die sie interpretieren, symbolisch aufladen, oder auch in ihren Formen in das Fremde und nicht Entschlüsselbare weitertreiben, macht gerade den Reiz dieses abenteuerlichen Kunstspielplatzes aus. Zu dem von Berlin aus anzureisen, schon etwas Zeit braucht.

Die schiere Anhäufung von Dingen, die keine Verwendung mehr finden, berührt

„Aus der Zeit, aus der Geschichte kann man nicht aussteigen wie aus einem Omnibus“, begann die einführende Rede der Kunstwissenschaftlerin Dorothée Bauerle-Willert. „Wir sind im Fluss der Zeit, wir sind dieser Fluss. Und zugleich hat die Zukunft eine lange Vergangenheit.“

Eine Zukunft, die gelingen will, sollte sich ihrer Vergangenheit bewusst sein, wenn entschieden werden muss, was überholt ist, was nicht mehr sinnvoll. Die Kunst, wie sie eben jetzt Endmoräne in Beeskow praktiziert, hilft, diese Vergangenheit auszuleuchten und zu befragen. Manchmal aber gilt sie vor allem auch einem Respekt vor den Dingen, der in sie hineingesteckten Arbeit und des investierten Wissens. Auch das berührt einen in Beeskow, die schiere Anhäufung von etwas, das keine Verwendung mehr findet.

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1 Kommentar

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  • Interessanter, guter Beitrag.



    Das Bild oben ist klasse.



    Ich gebe zu, das ich eine Weile an dem Wort Quetschschnecke herumgelesen habe bis ich es verstanden habe.



    www.facebook.com/p...?ref=page_internal



    Dann hat mich das Bild im Speisesaal- wieder-begeistert. Nach realen Vorbildern gestaltet.Grins!



    www.facebook.com/1...79/?type=3&theater



    Der Geruch in den Speisesälen(l.v.L.) hat sich auch im Langzeitgedächtnis verankert.



    Man, das ist noch original Fußboden. Was hat der alles er(lebt)tret!



    .... Auch das berührt einen in Beeskow, die schiere Anhäufung von etwas, das keine Verwendung mehr findet....



    Ein Satz, würdig einer Kulturredakteurin!



    Supi geht auch!