Die These: Wer gut leben will, muss fühlen
Empathie allein wird die Welt nicht retten. Aber ohne Empathie klappt die Weltrettung auch nicht. Wir brauchen sie, auch als Handlungsimpuls.
Z um Anfang eine Wahrheit: Man kommt nicht durchs Leben, ohne das Leid anderer zu sehen. Wer es sich leisten kann, mag sich Wohngegenden aussuchen, wo alles gut scheint. Mit Zäunen und Wachmännern, die das Leid und die Leute, die das Alles-gut-Gefühl stören könnten, abhalten. Aber selbst diese Orte müssen mitunter verlassen werden.
Ohnehin lauert das Leid überall: auf der Straße, im Fernsehen, in der Kunst, in der Familie, im Internet. Es zeigt sich in der dritten Obdachlosen, die mich um eine kleine Spende bittet, während ich den zweiten Cappuccino bestelle. Im kleinen Jungen in den Nachrichten, der aus Syrien vor dem Krieg floh, um dann vor den Schüssen bewaffneter europäischer Grenzschützer wegrennen zu müssen. Im Onkel, der eine Krebsdiagnose bekommen hat.
Das ist nur ein Bruchteil des Leids, das ich zuletzt gesehen habe, im echten Leben und auf verschiedenen Kanälen, manchmal im Vorbeiscrollen. Man gewöhnt sich nach und nach an die ständige Betrachtung von Leid – das ist die eine Sache, sie scheint unausweichlich. Woran ich mich aber nicht gewöhnen kann: dass nicht jedes Leid gleich behandelt wird.
Ich ärgere mich oft wie Ewigdreizehnjährige über die Ungleichverteilung von Empathie. Da sangen etwa die Menschen in Wuhan zu Beginn der Pandemie aus ihren Hochhausfenstern, aber emotionale Regung spürte ich bei den Menschen hierzulande erst, als Italiener:innen auf ihren Balkonen das Gleiche taten. Warum?
Da gab es die wirklich wunderbare Hilfsbereitschaft für Menschen im Westen Deutschlands, die bei der Hochwasserkatastrophe viel zu viel verloren haben, während es für die Menschen im globalen Süden, die schon seit Jahren unter Fluten, die Auswirkungen der Klimakrise sind, leiden, selten für mehr als eine Spendenaktion reicht. „Man kann diese Dinge nicht vergleichen“, heißt es oft. Aber warum nicht?
Mitgefühl ist keine einfache Sache
Als ich vor ein paar Jahren den Journalismusberuf lernte, brachte man mir ein journalistisches Prinzip bei, das lautet: Was näher dran ist, berührt mehr. Oder: Was näher dran ist, ist relevanter. Dass dabei mit Nähe ein (angenommenes) Näheempfinden der Mehrheitsgesellschaft gemeint ist, wird selten ausgesprochen. Und überhaupt ist das Prinzip natürlich wahnsinnig unzeitgemäß, weil immer mehr Leute mit Menschen und Orten auf der ganzen Welt verbunden sind, familiär, freundschaftlich, beruflich. In Deutschland haben mittlerweile 40 Prozent der Kinder unter 18 Jahren einen sogenannten Migrationshintergrund, Tendenz steigend.
Trotzdem will ich niemandem vorhalten, dass die Zerstörung des eigenen Zuhauses oder der Schmerz der Freund:innen stärker berührt, als das Leid von Menschen, denen man noch nie begegnet ist. Nicht alle müssen weinen, wenn auf der anderen Seite des Erdballs ein Regenwald brennt. Aber alle müssten sich in der Pflicht fühlen, etwas gegen das Feuer zu tun.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Das mit dem Mitgefühl ist keine einfache Sache. Ich habe bis vor Kurzem geglaubt, eine der erstrebenswertesten menschlichen Aufgaben sei es, nicht hart zu werden in einer kaputten Welt. Das klingt schön und schaffbar, weil ich dabei nur bei mir bleiben muss. Das Mitgefühl zu schützen und den Weltschmerz, den man als Teenager so filterlos gespürt hat – das finde ich immer noch gut. Ausschlaggebend aber ist nicht das Mitgefühl an sich, sondern es in etwas ganz Konkretes und Hilfreiches zu übersetzen. Oder wie Susan Sontag schreibt: „Mitgefühl ist eine instabile Gefühlsregung. Es muss in Handeln umgesetzt werden, sonst verdorrt es.“
Hier also die nächste Wahrheit: Empathie allein wird die Welt nicht retten. Aber ohne Empathie klappt die Weltrettung auch nicht. Oft ist sie Voraussetzung für den Willen, etwas zu tun. Bloß bleibt dann noch immer die Frage nach dem Wie.
Auf den Handlungsimpuls indes muss es mehr als individuelle Antworten geben. Vielmehr müssen Strukturen gefunden werden, die Empathie fördern und dann in konkretes Handeln übersetzen. Und zwar solche, die nicht die Idee des Nationalstaats begünstigen, sondern eine globale Gesellschaft, die sich nicht nur in wirtschaftlicher Abhängigkeit verbunden sieht, sondern auch in sozialer Fürsorge.
Das klingt abstrakt, aber eigentlich ist es ganz einfach. Ich will nicht alleingelassen werden mit der Hilflosigkeit darüber, dass mein Kaufverhalten die Polkappen nicht vor dem Schmelzen retten wird, oder dass in Haiti bisher nicht einmal 1 Prozent der Bevölkerung eine Corona-Erstimpfung erhalten hat. Ich will auch, dass wir überall die gleichen ethischen Maßstäbe an Berichterstattung über Leid anlegen, und nicht nur dann Respekt vor Betroffenen einfordern, wenn sie unsere direkten Nachbar:innen sind.
Dafür braucht es auch Verantwortung der Einzelnen, aber vor allem Regierungen, die endlich einsehen, dass die weltumspannenden Krisen sich nicht national wegverwalten lassen. Regierungen, die keine Patente zurückhalten und sich nicht nur für sich selbst und Bürger:innen mit Ausweisdokument verantwortlich fühlen.
Ich weiß schon, spätestens das ist der Punkt, an dem viele mich für naiv halten werden. Ich weiß das, weil Deutschland ein Land ist, in dem Dinge häufig bereits für unmöglich erklärt werden, bevor man sie überhaupt ausprobiert. Die Angst vorm Scheitern ist hier oft so groß, dass man lieber beim Altbekannten bleibt. Sogar dann, wenn das Altbekannte sich als ziemlich instabil und inhuman erweist. Wäre ich Pessimistin, müsste ich jetzt sagen: Dann geht sie halt unter, die Welt.
Mit Cocktail an der Poolbar
Wir in Deutschland konnten uns sehr lange die guten Teile der Globalisierung herauspicken: Ein Kleid bestellen, das in Bangladesch genäht wurde. Und dann den Kopf schütteln, wenn dort eine Textilfabrik brennt (#empathy). Auf ethische Standards der Berichterstattung und Respekt pochen, wenn im Inland eine Katastrophe geschieht, die Menschenleben kostet. Aber kurz darauf Videos einer 8.000 Kilometer entfernten Katastrophe teilen, auf denen man anderen beim Ertrinken zugucken kann, im Namen der dringend politischen Botschaft (#climatechangeisreal).
Alle großen Krisen – Klima, Covid-19, Rassismus, Flucht, Ungleichheit – betreffen die ganze Welt. Und doch treffen sie uns nicht alle gleich. Wir sitzen vielleicht alle in einem Boot, weil wir nun mal den gleichen Planeten bewohnen, aber manche hängen mit Cocktail an der Poolbar, während andere im Maschinenraum seit Jahren das Wasser nach draußen schöpfen. Wenn sich nichts ändert, gehen wir sehr wahrscheinlich alle unter. Wie absurd ist es da, dass noch immer so viele glauben, es wäre Ziel genug, bloß am längsten an Bord zu bleiben?
Hier also eine letzte Wahrheit: Moral und Anstand sollten Grund genug sein, diese hässliche Weltordnung abzuschaffen. Doch selbst diejenigen, die lieber Kosten-Nutzen-Rechnungen aufstellen, müssten spätestens jetzt einsehen: Der Pandemie, den Tornados, dem Meeresspiegel, der Hitze und dem Feuer sind Landesgrenzen egal. Die Jahre der globalen Katastrophenbewältigung brauchen keine nationalen Wettkämpfe, im Gegenteil. Wer das nachhaltig gute Leben im Einzelnen will, kommt nicht mehr daran vorbei, am nachhaltig guten Leben für alle zu arbeiten.
Empathie weltweit ist der erste, sie in Handeln umsetzen der zweite Schritt. Anders, und das schreibe ich als Optimistin, sind wir nicht zu retten.
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