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Proteste in Frankreich„Freiheit statt Diktatur“

Landesweit demonstrieren am Samstag 100.000 Menschen gegen Restriktionen im Kampf gegen Covid-19. Die Zahl der Impfungen erreicht 1 Million täglich.

Proteste ggegen die Coronapolitik von Präsident Emmanuel Macron am Samstag in Paris Foto: reuters

Paris taz | Mehr als 100.000 Menschen haben am Samstag bei Kundgebungen in Dutzenden von Städten in Frankreich gegen die von Präsident Emmanuel Macron am 12. Juli angekündigten Restriktionen und geplanten Kontrollen im Kampf gegen Covid-19 demonstriert. „Liberté!“ („Freiheit!“) war der am meisten gehörte Slogan der Demonstrant:innen. Denn als Zwangsmaßnahmen einer „Diktatur“ betrachten sie Macrons Pläne, die Impfung für Pflegepersonal ab Mitte September für obligatorisch zu erklären.

Zudem soll demnächst für den Zugang zu Einkaufszentren, Cafés, Restaurants, Bars und öffentlichen Einrichtungen der „Gesundheitspass“ kontrolliert werden, der mit einem per Scanner lesbaren QR-Code entweder eine vollständige Impfung gegen Corona oder einen aktuellen negativen Test bescheinigt. Viele Franzosen sehen darin den ersten Schritt zu einer allgemeinen Impfpflicht, die sie aus verschiedenen Gründen, vor allem aber aus Misstrauen gegen einen noch sehr neuen Impfstoff ablehnen.„Wir sind keine Versuchskaninchen“, sagten einige Demonstrierende.

„Wir sind keine QR-Codes“, stand auf anderen Spruchbändern. Es gab aber auch Demonstrierende, die hinsichtlich der Einschränkungen auch fragwürdige Vergleiche zu der Judenverfolgung und dem gelben Judenstern zogen oder in ihrem Zorn mit Rufen „Assassin“ („Mörder“) den Staatspräsidenten bezichtigten, mit dem Impfstoff Kinder töten lassen zu wollen. Einige leugnen die Realität der Pandemie oder halten zumindest die Restriktionen für das größere Problem: „Fausse pandémie, vraie dictature“ (Falsche Pandemie, wahre Diktatur“).

Allein in Paris protestierten nahezu 20.000 Menschen nach einem Marsch durch die Straßen der Innenstadt vor dem Gesundheitsministerium in der Nähe des Invalidendoms. An der Spitze marschierten bekannte Rechtspopulisten wie Florian Philippot (Ex-Front national, heute Chef von „Les Patriotes“) und Nicolas Dupont-Aignan („La France debout“).

Trikolore und „Marseillaise“

Viele Trikoloren waren zu sehen und immer wieder wurde die „Marseillaise“ angestimmt: „Allons enfants des la Patrie …“ Auf manchen handgemalten Plakaten war zu lesen „Sauvons la France!“ („Retten wir Frankreich“). Die extreme Rechte hatte massiv und erfolgreich für diese Kundgebungen am Samstag mobilisiert.

An der Seite der Rechtspopulisten marschierte eine ehemalige Wortführerin der „Gilets jaunes“, Jacline Mouraud. Das erstaunt umso weniger, als ein Teil der Wutbürger:innen, die sich bereits an den Protesten der „Gelbwesten“ beteiligt hatten, heute in Macrons Politik generell und in den einschränkenden Regeln zur Covid-Prävention einen neuen Grund sehen, auf den Straßen den „Rücktritt“ des ihnen verhassten Staatschefs zu fordern.

Mit dieser Skepsis oder totalen Ablehnung der Impfkampagne sowie der neuen Kontrollen sind auch viele Leute einverstanden, die sich politisch eher auf der linken Seite des politischen Spektrums ansiedeln. Entsprechend bunt gemischt waren in den meisten Städten die Demonstrationen. In der Nationalversammlung war Macrons Politik mit zusätzlichen Freiheitsbeschränkungen in den Reihen der linken „France insoumise“ ebenso entschieden abgelehnt worden wie von ganz rechts.

Bisher waren die öffentlichen Mobilisierungen gegen die Gesundheitspolitik in Frankreich eher auf ein geringes Echo gestoßen, da sich jeweils nur einige Dutzende oder Hunderte versammelten.

Am Samstag aber haben die Proteste eindeutig eine Schwelle überschritten. Macrons Ankündigung neuer Maßnahmen zur Eindämmung einer „vierten Welle“ durch die Deltavariante hat aber gleichzeitig auch dazu geführt, dass sich derzeit täglich fast eine Million Leute impfen lassen. In Frankreich sind inzwischen 30 Millionen Menschen, das heißt etwas weniger als die Hälfte der Bevölkerung, geimpft, 37 Millionen haben eine Injektion erhalten. Laut einer Umfrage in der vergangenen Woche stimmen angeblich 62 Prozent der Bür­ge­r:in­nen Macrons Anticovid-Politik zu.

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4 Kommentare

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  • Stimme Ihnen zu, allein der Titel „Freiheit statt Diktatur“ ist in einer Pandemie nicht angebracht. Macron spricht das aus, was ich mir und viele meiner Freude befürworten! Ich lebe seit ca. 30 Jahren in Frankreich.

  • Wer die Anti-Corona-Maßnahmen mit „Diktatur“ bezeichnet, sollte mal seinen/ihren Wertemaßstab mit dem vergleichen, was aus Russland, Belarus, China, Nordkorea, . . . bekannt ist!

    • @Pfanni:

      Ein schlauer Mann hat mal gesagt: "Worte sind oft nur vorhänge der Gedanken." Letztlich bedeutet Diktatur "nur" einen autoritärer Zwang, den eine Einzelperson, eine Gruppe oder Institution auf andere ausübt. In einer Welt größter Freiheit können schon kleine Einschränkungen und Zwänge als problematisch verstanden werden. Man sollte den Ruf nach Freiheit und Selbstbestimmung nicht unterbewerten. Real existierende Diktaturen sind nicht der Maßstab, denn wir leben im Gegenteil davon.

    • @Pfanni:

      Da stimme ich zu. Nur befürchte ich, dass in der "vor Corona"-Zeit die Leute mit Politik und Staatlichem Agieren wenig zu tun hatten und dann wurde durch staatliche Regelungen der Alltag größtenteils umgekrempelt, wofür dann die politikwissenschaftliche Deutungsfähigkeiten fehlten.