: Platzfinden
Obdachlosigkeit lässt sich gar nicht mehr übersehen in der Stadt. Und wenn man den Menschen schon kein Dach über dem Kopf verschaffen kann, sollen sie wenigstens einen geschützten Ort finden. Aber wie solche Safe Places einzurichten sind, ist umstritten
Von Timm Kühn und Uta Schleiermacher
Wer die Karl-Marx-Straße entlang läuft oder am Landwehrkanal spaziert, kommt dort häufig an fest eingerichteten Schlafplätzen vorbei. Oft nicht mal ein Zelt, sondern einfach eine breite Matratze, darauf ein bis zwei ordentlich ausgebreitete Schlafsäcke und Decken, manche Plätze sind mit einer Zeltplane gegen Regen und Blicke geschützt. Daneben Einkaufswagen oder ausrangierte Kinderkarren zum Sammeln von Pfandflaschen und für Habseligkeiten, vereinzelt auch ein kleines Regal. Wie ein kleines Wohn- und Schlafzimmer auf der Straße.
Solche Schlafplätze fallen in diesem Sommer nicht nur in Neukölln auf, sondern auch in anderen Innenstadtbezirken: Matratzen liegen im Eingang zu leerstehenden Geschäften, unter Brücken, oft aber auch einfach am Straßenrand, am Bauzaun oder am Kanalufer.
Die sichtbare Obdachlosigkeit, so der subjektive Eindruck, hat in den vergangenen Monaten damit deutlich zugenommen. Empirisch lässt sich dieser Eindruck schwer belegen, denn wirklich belastbare Zahlen gibt es nicht. In einer ersten berlinweiten Zählung von obdachlosen Menschen im Januar 2020 trafen die Zählteams knapp 2.000 Menschen an. Der Ergebnis dieser ersten „Nacht der Solidarität“ liegt damit deutlich unter den Schätzungen etwa von Beratungsstellen, die zuvor von 5.000 bis zu 8.000 obdachlos lebenden Menschen in Berlin ausgegangen waren.
Eine zweite für den Sommer geplante Zählung von Obdachlosen in Berlin ist wegen der Pandemie auf das kommende Jahr verschoben worden. Aber der Eindruck, dass solche Schlafplätze deutlich zahlreicher und auffälliger im Stadtbild geworden sind, deckt sich mit den Beobachtungen von Initiativen und Beratungsstellen der Obdachlosenhilfe. Und es ist ja nicht nur die Zahl: An solchen offen an der Straße liegenden Schlafplätzen sind die Menschen viel sichtbarer als in einem versteckten Zelt am Rand einer Brache.
„Früher hatten wir Obdachlosigkeit vorwiegend an einigen Hotspots. Inzwischen ist Obdachlosigkeit flächendeckend in der Stadt, Menschen suchen sich Nischen, sie leben unter Brücken. Mehr Menschen verlieren ihre Wohnungen, und dadurch sind sie auch sichtbarer“, sagt Andreas Abel von Gangway. Gangway macht niedrigschwellige Straßensozialarbeit und ist als Ansprechpartner für obdachlose Menschen am Zoo und am Ostbahnhof, aber auch in Friedrichshain-Kreuzberg und seit einem Jahr mit einem Team in Neukölln unterwegs. Dort sprechen sie Menschen an, bauen ein Vertrauensverhältnis auf und bieten Unterstützung an – wenn sie gewünscht ist.
„Dass es mehr Menschen geworden sind, bezweifelt niemand“, sagt Abel. „Wir sehen das auch, etwa an Statistiken von Beratungsstellen oder bei der Auslastung der Kältehilfe.“ Sei es früher relativ leicht gewesen, einen Menschen, der dies wünsche, im Sommer unterzubringen, sei dies nun nicht mehr ohne weiteres möglich.
Auch bei der Berliner Obdachlosenhilfe hat man den Eindruck, dass sichtbare Obdachlosigkeit in Berlin zugenommen hat. „Wenn allgemein weniger los ist draußen, werden diejenigen, die auf der Straße leben und sich eben nicht ins Zuhause zurückziehen konnten, sichtbarer“, sagt Heinz Waldow, einer der freiwilligen Helfer:innen bei der Obdachlosenhilfe. Dazu käme, dass den Menschen viele Einnahmequellen wie Zeitschriften verkaufen oder Betteln versiegt waren, so dass auch die, die sich sonst über den Tag das Geld für ein Hostel organisieren konnten, sich stattdessen einen Schlafplatz draußen eingerichtet hätten.
Bei den Bezirken – die verpflichtet sind, obdachlose Menschen unterzubringen – klingt das etwas weniger eindeutig. Eine Zunahme der Obdachlosigkeit sei in den vergangenen Jahren durchaus spürbar, diese unterliege aber auch saisonalen Schwankungen, heißt es etwa aus Charlottenburg-Wilmersdorf. Friedrichshain-Kreuzberg beschäftigten „die sichtbare Obdachlosigkeit und Campbildungen schon die gesamte Legislatur und darüber hinaus“. Und die relativ neue Zusammenarbeit von Neukölln und Gangway ist getragen von der Beobachtung, dass Obdachlosigkeit auch hier sichtbarer wird und sich in die Fläche ausdehnt.
Wenn Berlins Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Die Linke) über Zahlen spricht, möchte sie den Eindruck einer Zunahme weder bestätigen noch dementieren. Dies sei subjektiv, sagt sie, auch deshalb bemühe sie sich etwa mit Zählungen weiter um Zahlen.
Sie hat dabei allerdings nicht nur die Obdachlosigkeit im Blick – also die Fälle, in denen Menschen mit ihrem Hab und Gut vornehmlich auf der Straße leben -, sondern auch Wohnungslosigkeit, wo Menschen keine eigene Wohnung haben und etwa in Unterkünften untergebracht sind oder als sogenannte Sofahopper bei Bekannten mehr oder weniger temporär und oft prekär unterkommen.
Andreas Abel, Gangway
Breitenbachs erklärtes Ziel ist es, Wohnungs- und Obdachlosigkeit in Berlin bis 2030 zu beenden (siehe Interview Seite 45). Sie setzt dafür unter anderem auf Housing First – also den Versuch, Menschen als erstes und ohne große Voraussetzungen eine Wohnung zu vermitteln.
Dieses Konzept finden sowohl viele obdachlose Menschen als auch ihre Unterstützer:innen begrüßenswert. Doch bis dahin ist es noch ein langer Weg, in Berlin haben gerade erste Pilotprojekte für rund 70 Menschen begonnen.
Daneben will Breitenbach den Zustand von Unterkünften verbessern, und auch Safe Places sollen die Situation von obdachlos lebenden Menschen weniger prekär machen. Mit Safe Places sind Orte gemeint, an denen Menschen, die sich dort niederlassen, nicht geräumt werden und an denen die Bezirke oder Träger außerdem eine grundlegende Versorgung etwa mit Wasser, Toiletten und Müllabfuhr sicherstellen.
„Räumungen lösen das Problem ja nicht, diese Erkenntnis spricht sich inzwischen auch in den Bezirken herum, auch wenn die immer noch sehr unterschiedlich mit obdachlosen Menschen umgehen“, sagt Gangway-Mitarbeiter Abel.
Er kritisiert, dass in einigen Bezirken immer noch Orte ohne vorherige Ansprache geräumt werden. „Es gibt oft Orte, an denen sie nicht stören, und wenn sie da geräumt werden und weiterziehen, gibt es plötzlich Probleme mit Anwohner*innen“, sagt er. „Das ist doch unlogisch.“
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