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Zurück zum normalen AusnahmezustandDie Berlindemie

Einen maßvollen Übergang bekommt Berlin einfach nicht hin. Kaum fallen die Coronarestriktionen, ist alles fast wie immer, nur halt ohne die Touristen.

Feiern und Fliegen – auf dem Tempelhofer Feld Foto: Christophe Gateau/dpa

S chlag auf Schlag waren in den vergangenen Tagen viele Coronarestriktionen gefallen. Noch etwas ungläubig ob der neuen Lockerheit kurvte ich durch den Schillerkiez. Alles schien wie immer. Also, wie lange nicht mehr. Die Bürgersteige ein einziger Spießroutenlauf zwischen Fastfood, Drinks to go mit Live-DJ-Beschallung und der wundersamen Vermehrung von Sperrmülltischchen und -stühlen in der Außengastronomie. Nun ganz ohne Testpflicht, QR-Codes oder Apps. Überall Gesichter mit riesigen, unkaschierten Nasen. Nasenlöchern. Nasenhaar.

Berlin, dachte ich, kann gar keinen maßvollen Übergang. Wenn was geht, wird’s auch gemacht. Die Stadt präsentierte sich wieder in ihrem wahren Ausnahmezustand: der Berlindemie. Die aller Welt einredet, this is the place to be. Auf jeden Fall vermehrt sich der Berlinbazillus rasant und fügt uns zu Clustern zusammen: Vom Tempelhofer Feld trägt der Wind den Sound mehrerer Raves zu mir, an den Straßenecken Neuköllns wird gecornert: Bekannte und Zufallsfreunde kommen zwischen Bordstein und Häuserwand zusammen.

Es entsteht ein Freeze des Aufbruchmoments, weil man ja noch nicht so ganz sicher ist, was nun erlaubt ist. Und durch den ich mich nun schlängle, um zu einem Späti in der Selchower zu gelangen. Ohne Maske ordere ich ein pazifisches Ale durch ein aufgeschobenes Fenster.

Alles war also fast wie immer. Nur mit ohne viel Touristen. Die Stadt hatte in ihren gewohnten hektischen Rhythmus zurückgefunden – befeuert von Kamikazeradlern, E-Scooter-Boys und Truckerfahrern. Während ich auf einen kolumbianischen Freund wartete, schabte ich das Bier-Etikett ab.

Angst-Ort Tempelhofer Ufer

Auf dem Weg zu unserem verabredeten Treffpunkt war ich das Tempelhofer Ufer entlanggeradelt. Eigentlich seit Kurzem ein Angst-Ort. Es war Anfang Mai, aus Gaza wurden Raketen auf Israel abgefeuert, und ich stand an der Ampel Kreuzung Schöneberger Straße und mein Blick fiel vielleicht etwas zu lange auf ein in zweiter Reihe geparktes Auto. Das rechte Seitenfenster wurde heruntergekurbelt, ich dachte, ich würde gleich nach dem Weg gefragt.

Ein junger Mann sah mir herausfordernd ins Gesicht, rief unvermittelt: Hau ab, du Jude! Dann kurbelten auch die auf der Rückbank ihre Scheiben herunter: Du siehst doch aus wie ein Jude, hörte ich jetzt. Deine Brille! Ich brüllte irgendetwas zurück, an das ich mich nicht erinnere. Vier starke Männer saßen in dem Wagen, kurz davor auszusteigen. Dann sprang die Ampel auf Grün und sie reihten sich in den Stopp-and-go-Verkehr ein. Bald kamen sie zum Stehen. Ich fuhr an ihnen vorbei, stand aber so unter Adrenalin, dass ich vergaß, mir das Kennzeichen zu merken. Hätte ich sie anzeigen sollen?

Nachdem wir etwas unschlüssig durch gepflasterte Straßen geeiert waren, bestand der kolumbianische Freund darauf, an der Kirche am Herrfurthplatz zu halten. Er hatte Wichtiges zu verkünden, bald sei er Vater. Ich beglückwünschte ihn überrascht. Dann sprachen wir über Hebammen, Babyprodukte, Elternzeit.

Aber plötzlich hatte die Nacht den Kiez verschluckt, in den Schößen des Gotteshauses räkelten sich Liebespaare. Mein Freund erleichterte sich im Schatten eines Bauwagens. Viele, die das Tempelhofer Feld verließen, strandeten nun hier. Mein Blick fiel auf die nackten Knöchel. Dann auf ihre Schuhe. Weiße Sneakers! Alle trugen plötzlich weiße Turnschuhe. Waren die nicht früher dem Tennisplatz oder der Turnhalle vorbehalten? Doch dann dämmerte es mir. Ich wusste, warum diese Fußbekleidung gewählt wurde. Auf den meisten der Treter prangte ein einziger Buchstabe. Der konnte für „victory“ stehen, aber auch für „virus“.

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