Über Umwege und Sackgassen: Mit Philosophen im Anhänger
Auch auf den Spuren großer Metaphysiker verliert der Ethikrat die Vorzüge schnellen Vorankommens nicht aus dem Blick.
K ürzlich klingelte es an der Haustür und als ich öffnete, stand der Ethikrat vor mir. Der Ethikrat, das sind drei ältere Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Handreichungen in Fragen praktischer Ethik geben. „Wir wenden uns mit einem Anliegen an Sie“, sagte der Vorsitzende und zog seinen Hut in einem vollkommenen Halbkreis. „Wir hörten, dass Sie Richtung Italien fahren, und wollten fragen, ob Sie uns eine Mitfahrgelegenheit bieten könnten. Wir verfügen über einen Anhänger, den wir bei Ihnen ankuppeln würden.“
„Warum nicht?“, sagte ich. „Wohin in Italien wollen Sie denn?“ – „Wir wollen den Spuren Pico della Mirandolas folgen, denn wir haben in letzter Zeit die Metaphysik stark vernachlässigt“, sagte der Ratsvorsitzende und klang schuldbewusst. „Oh ja“, sagte ich und hoffte, dass sich rechtzeitig zeigen würde, wo die Spuren Pico della Mirandolas zu finden waren, dessen Studium ich ebenfalls vernachlässigt hatte.
Am nächsten Tag rumpelte es vor dem Haus, und als ich aus dem Fenster guckte, sah ich einen kleinen, uralten Anhänger mit Klappfenster, auf dessen Dach als Galionsfigur eine römische Göttin thronte. Der Rat winkte: „Wollen Sie sich einmal bei uns umsehen“, sagte der Vorsitzende voller Stolz, „es ist uns gelungen, eine kleine Bibliothek mit uns zu führen.“
Langeweile und Zuversicht
Tatsächlich stand im Anhänger eine ringförmige Mauer modrig riechender Bücher, in deren Mitte der Rat drei Klappstühle aufgestellt hatte. Die beiden Ratsmitglieder, die in der Regel schwiegen, hatten sich darauf niedergelassen. „Siamo filosofi“, las eines von ihnen aus einem zerfledderten Wörterbuch vor und wandte sich dann mir zu: „Grazie per noi portare.“
„Gern geschehen“, sagte ich verdrossen. Wieso musste mich der Ethikrat auch im Fremdsprachenbereich hinter sich lassen? „Gute Fahrt, Sie werden sich sicher nicht langweilen.“ – „Wir sind zuversichtlich, während der Fahrt die Abhandlung über das Seiende und das Eine noch einmal durchzuarbeiten“, sagte der Ratsvorsitzende heiter. „Wie lange rechnen Sie für die erste Etappe?“ – „Bestimmt neun Stunden“, sagte ich düster und dachte an das letzte Mal, als das Auto in der Würde und Anfälligkeit seiner 19 Jahre zusammengebrochen war. „Umso besser“, sagte der Vorsitzende heiter und entnahm der Büchermauer einen dicken Band.
Nach einer Stunde Fahrt flatterte aus dem Anhänger eine Fahne, auf der „Pause erbeten“ stand. Auf der Raststätte trank der Ethikrat einen Rotwein und stieß auf Italien an. „Haben Sie eine Frage für uns?“, wandte sich der Ratsvorsitzende zu meiner Überraschung an mich. Ich hatte ihn außer Dienst gewähnt, aber ich war froh, eine Frage stellen zu können, die mir beim Packen gekommen war, als ich mich fragte, wovon ich mich eigentlich erholen sollte, denn meine Erschöpfung schien mir weniger auf harte Arbeit, denn auf fortwährende Irrtümer und ihre Folgekosten zurückzuführen zu sein.
„Woher kommt dieser Kinderglaube, dass es ein gelobtes Land gibt, aber hier auf Erden und nicht erst im Himmel?“, fragte ich den Rat. „Und warum glaube ich, dass ich, wenn ich mir nur Mühe gebe und ein paar Umwege und Sackgassen ertrage, dort lande?“ Der Ratsvorsitzende nippte an seinem Rotwein. „In unserer Nachbardisziplin, der Psychologie, geht man davon aus, dass zu einem mündigen Charakter Ambivalenztoleranz gehört“, begann er, aber ich unterbrach ihn. „Ich weiß“, rief ich, „aber könnte man diese Ambivalenztoleranz nicht auch mutlos finden und das Bestehen auf das Ideale konsequent? Also eine Art Hegelianische Entwicklung im Privaten, getragen von der Weigerung, sich mit dem Falschen abzufinden?“
Festhalten am Leben ohne Schmerz
„Hegel finde ich hier nicht unmittelbar“, sagte der Ratsvorsitzende, „eher ein, sagen wir, naives Festhalten an einem Leben ohne Schmerz.“ – „Aber Sie sind doch dem Idealismus verpflichtet“, rief ich. „Ja, und?“, sagte der Vorsitzende kühl. „Was folgern Sie daraus?“ – „Dass es mehr …“, begann ich, aber da hupte es laut.
Die beiden Ratsmitglieder, die in der Regel schwiegen, hatten den Anhänger abgekoppelt und ihn an einen nachtblauen Alfa Romeo angekoppelt. Aus dessen Fenster sah ein bärtiger Mann und winkte dem Ratsvorsitzenden huldvoll zu: „Venite, per favore!“ – „Signore Eco, sind Sie zurück?“, rief der Vorsitzende und schien es nicht glauben zu können. „Entschuldigen Sie mich“, sagte er zu mir, aber es war keine Frage, und dann fuhr der Alfa Romeo in einer Acht, die ein Unendlichkeitszeichen hätte sein können, davon.
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