Über erzwungene Experimente: Großmut im Test

Gibt man dem Bettler mehr, wenn man dabei beobachtet wird? Der Ethikrat ist interessiert an Forschung zur Frage, vielleicht sogar zu interessiert.

Ein Mann spielt Drehorgel während ein Zuschauer sein Kind zu ihm führt

Die Frage ist: Gibt man dem Drehorgelspieler mehr, wenn man dabei beobachtet wird? Foto: Leszek Szymanski/dpa

Kürzlich lief ich durch die Fußgängerzone und dachte darüber nach, warum ich die Zeit, in der ich nicht einkaufen konnte, nicht für Sinnvolles genutzt habe, als ich auf den Vorsitzenden des Ethikrats traf. Der Ethikrat, das sind drei ältere Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Handreichungen in Sachen praktischer Ethik geben.

„Guten Tag“, sagte ich, „sind Sie heute allein?“, denn üblicherweise ist der Ethikrat nur zu dritt anzutreffen. „Meine Kollegen sind heute leider verhindert“, sagte der Vorsitzende, „aber sie lassen Sie herzlich grüßen“. „Vielen Dank“, sagte ich, „grüßen Sie bitte zurück“, und sah aus dem Augenwinkel zwei Jungen, die zur Gitarre ein vage trauriges Lied sangen. Der Ethikratsvorsitzende zog ein großes braunes Lederportemonnaie aus seiner Tasche und legte einen Schein in den Gitarrenkoffer vor ihnen. Ich war bankrott und hatte noch vier Euro, die ich für einen Kaffee vorgesehen hatte, also legte ich 50 Cent dazu.

„Handelt es sich um ein Arbeitstreffen?“, fragte ich, und dabei fiel mir auf, dass der Ethik­rat mit sonderbarer Zufälligkeit meinen Weg kreuzte. „Nun“, begann der Vorsitzende, aber dann brach er ab, um einem Punk, der mit einer Angel auf einem Fenstervorsprung saß, einen Schein in den daran hängenden Eimer zu legen. Ich hatte Sorge um meinen Kaffee, deshalb kramte ich nach Münzen von eher geringem Wert in der Hoffnung, dass der Ratsvorsitzende es nicht sehen würde. „Da hast du wohl ’ne Kupfermine am Start“, sagte der Punk heiter und ich gab ihm unfroh meinen vorletzten Euro.

Da fiel mir ein Versuch mit Theologiestudenten ein, von dem ich einmal gehört hatte. „Kennen Sie das Experiment mit Theologiestudenten, die man eine Predigt über den barmherzigen Samariter hören ließ“, wandte ich mich an den Ratsvorsitzenden, „und dann an einem Bettler vorbeischickte? Die meisten haben ihm nichts gegeben“.

„Ich hörte davon“, sagte der Vorsitzende. „Wie deuten Sie das Ergebnis?“, fragte ich, aber da wandte sich der Vorsitzende ab, um einer Gestalt, die von einem Schal verhüllt am Boden kauerte, einen Schein hinzuhalten. Doch ein Windstoß wehte ihn davon und als sich die Gestalt erhob, um ihn zu erhaschen, fiel der Umhang von ihr ab. Darunter kam eines der Ratsmitglieder, die üblicherweise nichts sagen, zum Vorschein. Es wirkte verlegen.

Teil einer Versuchsanordnung sein

„Was tun Sie da?“, fragte ich. „Ich bin Teil eines Versuchs“, antwortete das Ratsmitglied. „Was für eines Versuchs?“, fragte ich. „Nun“, räusperte sich der Ratsvorsitzende und auch er schien gegen seine Gewohnheit unbehaglich. „Wir beschäftigen uns gerade mit der Auswirkung von sozialer Kontrolle auf das Spendenverhalten. Kurz gefasst lautet die Frage: Spenden Probanden mehr, wenn Menschen aus ihrem Umfeld sie dabei beobachten?“

„Welche Probanden?“, fragte ich und sah, wie der Drehorgelspieler auf der gegenüberliegenden Seite seine Sonnenbrille und den übergroßen Hut abnahm und sich uns langsam näherte. Natürlich war es das dritte Ratsmitglied. Plötzlich dämmerte es mir. „Sie wollen mir nicht sagen, dass ich gerade Teil eines Ihrer Versuche bin“, rief ich, „weil Sie herausfinden wollen, ob ich genauso heuchlerisch bin wie die Theologiestudenten.“

Der Vorsitzende hob mit einer Geste, die möglicherweise Bedauern ausdrücken sollte, die Hände. „Dabei haben Sie mir nicht mal eine Predigt mit auf den Weg gegeben“, rief ich und geriet allmählich in Wut. „Sparen Sie an allem, Theologie, Respekt, Ehrlichkeit?“ „Frau Gräff“, sagte der Ratsvorsitzende, „ich möchte Ihnen versichern, dass wir diese Studie ergebnisoffen führen. Und verfügten wir über die finanziellen Mittel, hätten wir bezahlte Probanden gewählt.“

Ich schwieg. Die trübe Wahrheit war, dass ich den Rat dringender brauchte als er mich. „Können Sie mir zusichern, dass ich nicht wieder Teil eines Versuchs sein werde?“, fragte ich den Vorsitzenden. Er nickte und der Wind ließ den Schein vor seinen Füßen hochwirbeln, zehn Euro von der Kinderpost-Druckerei.

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ist taz-Redakteurin in Hamburg und schreibt bevorzugt über ökonomisch wertlose Beschäftigungen. Ihr Buch „Warten. Erkundungen eines unge­liebten Zustands“ erschien 2014, „Schlafen. 100 Seiten“ 2019.

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