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Public Viewing bei der EMNicht für die Türkei, gegen Deutschland

Unseren Autor lässt das deutsche Ausscheiden bei der EM kalt. Weniger geht es dabei um nationale Identität oder „Integration“: Es geht um Oben und Unten.

Achtelfinale im Kölner Biergarten: Deutschland fliegt raus – und nicht alle sind so traurig darüber Foto: Ying Tang/NurPhoto/imago

F rüher waren nationale Fußballturniere sehr wichtig für mich. Heute weiß ich, dass es nur vordergründig um das Nationale ging – woran ich wieder denken musste, als Deutschland im Achtelfinale der Europameisterschaft gegen England ausschied.

Während die aus dem Wembley-Stadion übertragene Trauer über die Niederlage grenzenlos schien – „Die Tränen von Kimmich sind echt“, so der Kommentator – hielt sie sich beim Public Viewing am Kreuzberger Späti (Flachbildschirm auf Bierbank, Bierbank auf Bierkästen) in Grenzen. Der (post-)migrantische Teil des Publikums zeigte keine Gefühle. Ein Mann schrie beim ersten englischen Tor sogar vor Freude auf. Warum? Haben schließlich nicht auch wir verloren?

Zwei Ereignisse fielen mir dazu ein: Das 1:0 der Türkei gegen Deutschland beim EM-Qualifikationsspiel am 10. Oktober 1998 in Bursa. Und das 2:0 von Italien gegen Deutschland in Dortmund bei der Weltmeisterschaft 2006.

Nie bin ich so stolz durch die Gänge meiner Grundschule gegangen wie nach dem Kopfballtor von Hakan Şükür, der in der 70. Minute den großen Oliver Kahn bezwang. Immer musste ich mir den deutschen Spott anhören. Nach diesem Spiel verspottete ich die anderen.

Nicht weil Nationalismus voll mein Ding war, sondern weil nationale Differenz früher eine Stütze war. Etwas, an dem ich mich festhalten konnte, wenn Mitschüler und Trainer Wortwitze mit meinen für sie fremd klingenden Namen gemacht haben, oder wenn ein Lehrer mir mit einfühlsamen Worten eine handwerkliche Ausbildung nahelegen wollte, weil er mir das Abitur nicht zutraute.

Deutschland oben, Türkei unten

Dass es um konkrete nationale Identität geht, habe ich ein paar Jahre später erlebt, während des deutschen Sommermärchens 2006. Am 4. Juli standen Italien und Deutschland im Halbfinale. Ich saß mit türkeistämmigen Freunden wie selbstverständlich bei unseren italienischstämmigen Freunden im italienischen Café, nur wenige Meter entfernt von der deutschen Kneipe, wo die deutschen Kids aus den großen Häusern in höheren Lagen am Stadtrand das Spiel schauten.

In der italienischen Kneipe jubelten die türkischen, italienischen und kroatischen Jungs und Mädels, als Grosso in der 119. und Del Piero in der 120. Minute den schwarzrotgoldenen Rausch beendeten.

Man konnte also türkische Eltern haben und für Italien fiebern. Oder italienische Eltern haben und Kroatien anfeuern, wenn die gegen Deutschland gespielt haben. Das war so, weil Deutschland für die Kinder von migrantischen Ar­bei­te­r:in­nen Gymnasiasten waren, die auf Hauptschüler und die Ausnahmen auf ihrer Schule herabblickten; oder Lehrer, die an ihrem Intellekt und ihrer Zivilität zweifelten; oder Demütigungen, die ihre Eltern in Fabriken erfahren haben.

Das war so, weil Deutschland oben war, Türkei, Italien und Kroatien waren unten. Und deshalb war auch ich wohl diese Woche sehr gefasst, als Deutschland ausschied.

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Volkan Agar
Redakteur taz2
Kolumnist (Postprolet) und Redakteur im Ressort taz2: Gesellschaft & Medien. Bei der taz seit 2016. Schreibt über Soziales, Randständiges und Abgründiges.
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4 Kommentare

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  • Man muss bei sowas ja nicht unbedingt für ein bestimmtes Land sein, aber sich zu freuen, dass ein Land ausscheidet, ist schäbig, es ist das Niveau der englischen Fans die gegnerische Hymnen ausbuchen, da zeigt sich, wie unangenehm Fankultur oft ist, in dem Fall ist es auch Integrationsverweigerung. Ihr Migranten seid auch Teil unserer Gesellschaft, ich finde, man kann nicht sagen, dass die Nationalmannschaft das nicht gut symbolisiert. Gruppenbezogene Vorurteile oder Ablehnung von Menschen sind immer falsch.

  • Das entspricht interessanterweise exakt meiner eigenen Erfahrung als Migrantenkind. 2006 wurden meinem blonden Kumpel Schläge beim Public Viewing am Marktplatz in Hanau angedroht, weil dieser für Kroatien gejubelt hatte...



    Die meisten in diesem Land verschließen bewusst ihre Augen vor der Realität.

  • Aha...

  • "Der (post-)migrantische Teil des Publikums zeigte keine Gefühle."

    In meinem Bekanntenkreis sind die meisten Menschen sehr oder zumindest interessiert am Fußball.

    Aber praktisch keiner interessiert sich für die "Mannschaft," es wird schon gar nicht mehr versucht gemeinsam zu schauen, es besteht bei kaum einem Interesse. Ich war schon bei hunderten Spielen "meiner" Eintracht. Ich war in Porto, Rom, London, Nikosia, Bordeaux, natürlich gegen Maccabi, aber noch nie bin ich auch nur auf die Idee gekommen ins Stadion zur Nationalmannschaft zu gehen.

    Nicht meine Welt, zur Nationalmannschaft geht meiner Meinung nach teilweise ein ganz anderes Publikum als in den Ligen. Da hat es auch nie sonderlich interessiert, ob du Klaus, Petar oder Oktay heißt. Adler auf dem Rücken oder der Brust und du bist dabei.

    #supportyourlocalclub



    #schwarzundweißwieschnee